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Ra(d)tgeber

Vollfederung beim E-Bike: Alles was du wissen musst!

Lesezeit etwa 9 Minuten

Warum es physikalisch immer sinnvoll ist, das Hinterrad zu federn und wie das funktioniert.

Wer beim Fahrrad oder E‑Bike von Federung spricht, meint oft die Federgabel, die Unebenheiten am Vorderrad ausgleicht und so Bordsteinkanten oder Schlaglöchern den Schrecken nimmt. Die sogenannte Vollfederung, also Vorder- und Hinterradfederung, ist meist sportlichen Mountainbikes oder E‑Bikes aus dem Hochpreissegment vorbehalten. Warum es physikalisch immer sinnvoll ist, das Hinterrad zu federn und wie das funktioniert, erklärt der pressedienst-fahrrad.

Warum Hinterradfederung?

Ganz gleich, ob im Alltags- oder sportlichen Einsatz: Ein gefedertes Hinterrad bzw. eine Hinterbaufederung erhöht Fahrsicherheit und ‑komfort drastisch und ist – für viele überraschend – auf unebenem Untergrund sogar effizienter.

Der Grund dafür ist einfach: Die Federung erlaubt es dem Hinterrad, Unebenheiten auf der Fahrbahn zu folgen und verhindert, dass es unkontrolliert springt. Denn nur, wenn der Reifen Kontakt zur Fahrbahn hält, kann er Traktion aufbauen, also seiner Aufgabe nachkommen, Antriebs‑, Seitenführungs- und Bremskräfte zu übertragen. Dabei ist es gleichgültig, ob der Untergrund ein unter Denkmalschutz stehendes Kopfsteinpflaster auf dem Weg zur Arbeit oder der Wurzelteppich bei der Mountainbike-Tour am Wochenende ist.

Ein zweiter wesentlicher Grund für eine Hinterradfederung – gerade am Alltagsrad – ist der höhere Komfort. Stöße und Fahrbahnunebenheiten werden nicht durch den Sattel in Gesäß und Rücken weitergeleitet, sondern weitgehend herausgefiltert.


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Wie funktioniert eine Hinterbaufederung?

Ziel einer Hinterbaufederung ist, dass das Hinterrad dem Untergrund folgen kann und nach der Ein- oder Ausfederbewegung kontrolliert wieder in die Ausgangsstellung zurückkehrt.

Dazu muss sich das Hinterrad um einen oder mehrere Drehpunkte drehen, die die Raderhebungskurve bedingen. Bei der Raderhebungskurve handelt es sich um die Linie, der die Achse des Hinterrades beim vollen Einfedern der Federung folgt.

Um das zu ermöglichen, besteht die Hinterbaufederung aus zwei hauptsächlichen Baugruppen: Den sogenannten „Gelenken“ (eigentlich: Lagern) und dem Federbein, das umgangssprachlich einfach Dämpfer genannt wird. Die Lagerung (Gelenke) ermöglicht dabei die Bewegung. Das Federbein ist dafür verantwortlich, diese Bewegung durch eine angepasste Federhärte und Dämpfung den Ein- und Ausfedervorgang zu kontrollieren.

Tatsächlich gibt es in der Fahrradtechnik eine Vielzahl an Varianten, wie dieses Prinzip umgesetzt wird, die sich z. B. in der Anzahl und Position der Hinterbaulager, resultierender Raderhebungskurve und anderen Eigenschaften teils drastisch unterscheiden.

Im Alltagsbereich, moderatem Geländeeinsatz und Cross-Country-Mountainbiking betragen die Federwege meist 70 bis ca. 120 Millimeter und steigern sich durch die diversen anderen Mountainbike-Kategorien bis zu etwa 200 Millimeter im Downhill-Sport. Vollgefederte Gravelbikes kommen mit ca. 30 Millimetern Federweg aus.

Als Faustformel gilt: Je ruppiger der Untergrund und je schneller die Fahrt, desto mehr Federweg wird benötigt.


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Komplizierter ist nicht immer besser: der Eingelenker

Die einfachste – und das muss nicht heißen schlechteste – Hinterbaukonstruktion ist der Eingelenker. Der Name ist hier Programm: Das Hinterrad bewegt sich auf einer Kreisbahn um eine zentrale Hinterbaulagerung (das „Gelenk“) herum.

Ein Eingelenker hat einige grundsätzliche Stärken: Er kommt mit wenigen beweglichen Teilen aus, das macht ihn vergleichsweise leicht, robust und gleichermaßen wartungsarm wie ‑freundlich und so vor allem interessant für Mountainbiker:innen in Schlechtwetterregionen bzw. Alltagsräder.

Ein Beispiel für so eine Konstruktion ist die „Delite“-Plattform des deutschen E‑Bike-Spezialisten Riese & Müller, die sowohl im Alltagsbetrieb wie auf Radreise oder in leichtem Gelände Anwendung findet. „Wartungsarmut und Langlebigkeit standen bei der Konstruktion im Lastenheft ganz oben, denn die Delite-Modelle sind keine Sportgeräte, sondern Allrounder für Alltag und Tour auch abseits der Straße“, erklärt Jörg Matheis, Leiter der Unternehmenskommunikation beim hessischen Anbieter.

Stolperfalle Raderhebungskurve

Bei allen Stärken hat der Eingelenker (und sein Bruder, der „abgestützte Eingelenker“) jedoch auch eine Schwäche: eine kreisrunde Raderhebungskurve.

Trifft das Hinterrad auf ein Hindernis, ist es gezwungen, nach vorne und oben auszuweichen, also in Richtung des Hindernisses und gegen den von ihm ausgelösten physikalischen Impuls. Das ist fahrdynamisch nicht optimal, weil die Federung dadurch weniger sensibel agiert und das Hinterrad gerade beim Bremsen oder in technisch anspruchsvollem Terrain dem Untergrund nicht optimal folgt.

Im Alltags- oder moderaten Toureneinsatz macht das nichts, denn hier kommen die Schläge nicht kontinuierlich und in schneller Folge, sondern eher vereinzelt. Für den Kampf um die Bestzeit oder Fahrer:innen, die extremes Gelände unter die Räder nehmen, haben sich aber besonders die Mountainbike-Hersteller etliche Konstruktionen einfallen lassen, die die Raderhebungskurve so optimieren, dass das Hinterrad sich vom Hindernis weg bewegt.

Schreckgespenst Wippen

Gerade Radfahrer:innen, die vom Rennrad kommen, bemängeln oft den Kraftverlust durch einen wippenden Hinterbau. Kettenzug und Körperbewegung regen den Hinterbau zur Bewegung an. Das kostet Energie.

Das Schreckgespenst ist allerdings durch den technischen Fortschritt längst gebannt. Moderne Hinterbaufederungen sind so konstruiert, dass sie unerwünschtes Wippen kinematisch stark unterdrücken. Die Entwicklung der Federbeine mit unterschiedlich starken und zuschaltbaren Dämpfungsstufen bis hin zur vollen Blockierung hat ihr Übriges getan.

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Dämpfer beim E-MTB MIG-R von Thok

Tatsächlich ist abseits von perfektem Asphalt eine Hinterbaufederung oft sogar effizienter als eine starre Konstruktion, weil Antriebs- und Bremskräfte nicht buchstäblich in der Luft verpuffen, während das Hinterrad springt. Sportler:innen profitieren eher von höherem Komfort, indem sie wertvolle Kraft sparen und Ermüdung reduzieren.

Nicht zuletzt deshalb haben sich vollgefederte Konstruktionen in den letzten Jahren in allen MTB-Wettkampfdisziplinen auf breiter Front durchgesetzt und erobern inzwischen sogar die Welt des Gravel-Rennrades, wie etwa das vollgefederte Cannondale „Topstone Carbon Lefty 3“ zeigt. Die Konstruktion, die der Hersteller „Kingpin“ nennt, setzt zur Gewichtsreduktion übrigens auf Carbon-Kettenstreben, die wie eine Blattfeder funktionieren und so bis zu 30 Millimeter Federweg bereitstellen.

Ein bewährter Allrounder: Der Viergelenker

Eine der bekanntesten Hinterbaukonstruktionen ist der Viergelenker. Die Gesamtzahl der Gelenke im Hinterbau beträgt – wenig überraschend – vier.

Zwischen Tretlager und Hinterradachse liegt ein Gelenk, im Englischen nach seinem Erfinder Horst Leitner auch „Horst-Link“ genannt. Es ändert die Raderhebungskurve so, dass sie nicht mehr exakt auf einer Kreisbahn um den Hauptdrehpunkt verläuft.

Die anderen Gelenke dienen der Abstützung. Viergelenker sind so etwas wie die eierlegende Wollmilchsau der Federungskonstruktion. Sehr vielseitig, keine bösen Überraschungen, aber auch keine extremen Fertigkeiten in einem Bereich.

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Flyer Goroc X 6.70

Allerdings ist bei Viergelenk-Design der Zusammenhang zwischen Kettenzug und Hinterbaufunktion relativ groß. Vereinfacht heißt das: Entweder leichter Pedalrückschlag (dazu später mehr) beim Einfedern oder leichtes Wippen beim Pedalieren. Gerade im Allroundbereich, wo ein wenig Wippen nichts ausmacht, sind Viergelenker wegen ihrer ausgewogenen Fahreigenschaften sehr geschätzt und kommen z. B. am Cannondale-Trail- und Tourenbike „Habit“ genauso wie am vielseitigen SUV-E-Bike Flyer „Goroc X“ zum Einsatz.

Virtuelle Drehpunkte: Twin-Link und Co.

Anders als der Eingelenker zeichnen sich komplexere Hinterbaukonstruktionen durch einen virtuellen Drehpunkt (engl. Virtual Pivot Point) aus. Das heißt, der Drehpunkt verändert sich während des Einfedervorgangs. Das erlaubt, das Verhalten der Federung in verschiedenen Phasen der Einfederbewegung gezielt zu beeinflussen, etwa sensibel zu Beginn und am Ende progressiver werdend, um Reserve für harte Schläge zu bieten.

Neben dem Viergelenker machen sich v. a. sogenannte Twin-Link-Hinterbauten diesen Effekt zu nutze. Das Hinterrad bewegt sich um zwei Wippen (engl. „Twin Link“) nach oben, die Hauptrahmen und Hinterbau miteinander verbinden. Mountainbike-Hersteller Ghost setzt bei seinen jüngsten Entwicklungen „Lector FS“, „Riot“ (in den Federwegs-Varianten „Trail“, „AM“ und „EN“) sowie beim E‑MTB „E‑Riot“ (als „AM“ und „EN“) auf dieses Prinzip. Der Hersteller nennt sein Design „Traction-Link“.

Tina Kutschki, Head of Engineering bei Ghost, erklärt die Vorteile so: „Der Traction-Link sorgt dafür, dass die Federung unabhängig von Antrieb oder Bremsen immer gleich gut und feinfühlig arbeitet. Außerdem arbeitet das System sehr effizient, weswegen wir es auch im Cross-Country-Fully Lector FS verwenden. Unsere Athletin Anne Terpstra hat die Leistungsfähigkeit mit zweiten Plätzen bei WM und EM sowie einem fünften Platz bei Olympia in diesem Jahr eindrucksvoll bewiesen.“

Rahmen mit virtuellem Drehpunkt wie den Traction-Links sind optisch durch ein geschlossenes hinteres Rahmendreieck ohne weitere Lager oder Drehpunkte zu erkennen – was für eine hohe Steifigkeit sorgt. „Wenn man die komplexen Berechnungen im Griff hat, kann man extrem präzise steuern, was der Hinterbau tut“, ergänzt Kutschki.

Besonderheit „High Pivot“

Ein brandaktueller Trend in der Mountainbike-Welt sind sogenannte „High-Pivot“-Konstruktionen. Meist basieren sie auf einem Eingelenker.

Der US-amerikanische MTB-Pionier Cannondale setzt bei seinem Enduro-Bike „Jekyll“ auf einen Viergelenker und positioniert dessen Hauptdrehpunkt deutlich oberhalb des Kettenblatts. Damit wird tatsächlich die theoretisch optimale Raderhebungskurve nach hinten/oben erreicht. Das Hinterrad weicht Hindernissen buchstäblich aus.

„Durch den hohen Drehpunkt erreichen wir eine Raderhebungskurve, die vor allem das Ansprechverhalten und die Traktion deutlich positiv beeinflusst. Wir sind überzeugt, dass wir gerade im anspruchsvollen Enduro-Sektor eine optimale Lösung gefunden haben. Ansprechverhalten und Traktion bleiben selbst dann hervorragend, wenn die Pilot:innen, wie im Rennzirkus oder bei größeren Sprüngen üblich, auf ein sehr straffes Federbein setzen“, ist Marketing-Manager Daniel Häberle von Cannondale überzeugt.

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E-MTB Cannondale Jekyll

Weil sich bei dieser Konstruktion der Abstand zwischen Kurbel und Hinterachse des Fahrrades beim Einfedern allerdings erheblich vergrößert, führen die meisten Hersteller die Kette über eine zusätzliche Umlenkrolle am Hauptdrehpunkt. Sie verhindert, dass die Kette die Pedale beim Einfedern nach hinten zieht – den gefürchteten Pedalrückschlag. Cannondale nennt dieses Röllchen „Guidler“, weil es außerdem die Kettenführung verbessern soll.

„Das Jekyll ist auf seine Abfahrtsleistung optimiert, deshalb verbauen wir das Federbein zusätzlich schwerpunktgünstig in einer Aussparung tief im Hauptrahmen“, ergänzt Häberle.

[Text PD-F | Fotos: PD-F /Cannondale(1), Flyer (1), VeloStrom (4)]

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Alexander Theis