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Markt & Hersteller Über'n Tellerrand

Zukunft Radverkehr: Wer Visionen hat…

Lesezeit etwa 10 Minuten

daniel_pulvermueller_velomobil…fährt Fahrrad! Ohne Erfinder, die über den Tellerrand hinausblicken, stünde die Mobilität still. Hätte z. B. Karl Drais vor 201 Jahren nicht an seine Vision geglaubt, würden wir wahrscheinlich nicht Rad fahren, sondern immer noch auf Pferden reiten.

Der pressedienst-fahrrad stellt fünf moderne Visionäre vor, die aus ganz unterschiedlichen, spontanen Ideen heraus ein Fahrradunternehmen gegründet haben, das aktuell ein Jubiläum feiert und zu den Marktführern zählt.

Dabei stellt sich auch die Frage: Welche Vision haben sie für die Zukunft der Mobilität?

[pd-f/tg] Altkanzler Helmut Schmidt war überzeugt: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Ob Philippe Kohlbrenner das tat, wissen wir nicht. Der Ingenieur hat mit seiner Vision allerdings das Fahrradfahren grundlegend verändert, als er vor 25 Jahren einen Motor an ein Fahrrad schraubte.

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Der „Rote Büffel“, der erste Flyer (Klicken zum Vergrößern)

Sein eigentliches Coronado-Herrenrad stattete der Tüftler mit einer klassischen Autobatterie über dem Tretlager aus, die wiederum einen Scheibenwischermotor antrieb. Er nannte es „Roter Büffel“, in Anspielung an die Rinder seiner Heimatregion Emmental.

Das Rad sah befremdlich aus, aber Kohlbrenner konnte damit spielend leicht die Berge hinauffahren, um zum Mittagessen bei seiner Frau zu sein. Letzteres ist vermutlich eine Legende, die im Firmengebäude des schweizerischen E-Bike-Herstellers Flyer in Huttwil dennoch gerne erzählt wird. Im kleinen Firmenmuseum wird der Rote Büffel dort ausgestellt, denn er gilt als die Geburtsstunde des erfolgreichen Elektroradunternehmens.

Technisch rollt es voran

Ideengeber Kohlbrenner hat sich nach einigen Aufs und Abs bereits früh zurückgezogen. Er und seine Kollegen mussten feststellen, dass eine Vision allein nicht ausreichend ist, wenn die Gesellschaft dafür noch nicht bereit ist.

Erst 2001 mit der Gründung der Biketec AG bekam das Thema Elektrofahrrad richtig Schwung. Flyer entwickelte sich zu einer Pioniermarke der Branche und stellte mit der „C-Serie“ 2003 den Inbegriff moderner Mobilität vor. Äußerlich unterschieden sich die Räder deutlich vom Roten Büffel, aber das Prinzip war das Gleiche: ein mit Akku und Motor betriebenes Fahrrad.

15 Jahre später sind E-Bikes ein fester Bestandteil im Straßenverkehr. Flyer hat eine breite Produktpalette vom elektrifizierten City- bis zum Mountainbike, ist auf dem heimischen Markt führend und erzielt hohe Exportzahlen speziell nach Deutschland.

„Die C-Serie war das erste Elektrovelo mit einem Lithium-Ionen-Akku. Damit wurde sein Gewicht verringert und die Reichweite erhöht“, erklärt Ivica Durdevic den Erfolgsweg des Rades. Der heutige Flyer-Chefentwickler sieht gerade die Entwicklung von leichteren und leistungsfähigeren Akkus als ein wesentliches Kriterium für die weitere Verbreitung von Elektrorädern. „Die Bikes werden dadurch leichter. E-Mountainbikes unter 15 Kilogramm werden schon in wenigen Jahren Realität sein. Außerdem wird das Thema Digitalität immer wichtiger. Dazu zählen für mich bessere Navigation, Diebstahlschutz und Sharing-Möglichkeiten. Das E-Bike der Zukunft denkt mit und schützt sich und den Fahrer“, blickt Durdevic freudig auf die kommenden E-Bike-Entwicklungen.

Schulprojekt als Startschuss

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Daniel Pulvermüller in einem frühen Velomobil auf Basis eines Liegedreirads (Klicken zum Vergrößern)

Rund 25 Radstunden entfernt, im hessischen Kriftel, sieht Paul Hollants ebenfalls das E-Bike als wichtigen Mobilitätsbaustein für die Zukunft. Noch als Schüler legte er vor 25 Jahren zusammen mit seinem Freund Daniel Pulvermüller die Grundlage für HP Velotechnik.

Die beiden Schüler konstruierten ein dreirädriges Fahrzeug mit dem Ziel, trocken und ökologisch korrekt zur Schule zu kommen. Die Idee reichten sie beim Wettbewerb JUTEC des Vereins Deutscher Ingenieure unter dem Titel „Individual-Nahverkehrsfahrzeuge der Zukunft“ ein. Hollants schrieb damals: „Das Fahrzeug ist prinzipiell prädestiniert für den Einsatz eines kleinen Hilfsmotors.“ Dieser müsse jedoch auf das Mittreten ausgelegt sein.

Bis es allerdings zum ersten Elektrodreirad aus Kriftel kam, vergingen noch ein paar Jahre. Hollants und Pulvermüller konzentrierten sich in den Anfängen auf den Bau von Liegezweirädern. Von einem Business-Plan, schmunzeln beide heute, hatten sie keine Ahnung, erst während des Studiums kam das wirtschaftliche Herangehen hinzu.

Lücke zwischen Fahrrad und Auto schließen

Technisch waren die Liegeräder allerdings auf hohem Niveau. „Wir arbeiten speziell die Vorteile des Liegerades heraus. Für uns sind das die aerodynamischen und ergonomischen Vorteile gegenüber dem Aufrechtrad und die bessere Möglichkeit eines Wetterschutzes“, begründet Hollants.

Heute verlassen jährlich rund 2.000 individuell gefertigte Liegeräder die Manufaktur. Damit ist HP Velotechnik europäischer Marktführer mit einem Umsatz zwischen fünf und sechs Millionen Euro. Um weiterhin weltweit erfolgreich zu agieren, verfolgen Hollants und Pulvermüller ständig neue Visionen und Technikentwicklungen.

2007 hielt schließlich die Elektromobilität Einzug. Für Pulvermüller sind elektrifizierte Dreiräder gar Verkehrsmittel, welche die Lücke zwischen Auto und Fahrrad in Zukunft schließen können: „So wie die Autoindustrie sich zum Beispiel mit einem Fahrzeug wie dem Twizzy vom Auto entfernt, kann ein Leichtbaufahrzeug wie unser S-Pedelec auf drei Rädern zu einer Plattform für weitere spannende Entwicklungen werden.“

Räder über den Arbeitgeber beziehen

Mit der Vision vom Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel startete Ulrich Prediger vor zehn Jahren mit Jobrad. Seine Erfindung: Arbeitgeber sollen ihren Angestellten ein Dienstfahrrad anstelle des Dienstautos anbieten können.

Dafür erhielt er diverse Gründerpreise, aber in der Realität haben sich viele Unternehmen dem geleasten Fahrrad zunächst verschlossen. Erst im November 2012 bekam das Thema neuen Schwung: Durch einen Erlass der Länderfinanzbehörde werden seitdem Dienstwagen und Dienstfahrrad nach der Ein-Prozent-Regel steuerlich gleich behandelt. Damit begann für Jobrad der Erfolgsweg und man wandelte sich vom Pionier zum Impulsgeber und Marktführer.

Über 7.500 Arbeitgeber und 4.500 Fachhändler arbeiten mit dem Anbieter zusammen, insgesamt über 1,5 Millionen Arbeitnehmer sind berechtigt, über Jobrad ein Dienstfahrrad zu beziehen, da ihr Arbeitgeber Dienstrad-Leasing anbietet.

Städte werden sich verändern

„Das Fahrrad ist auf der Kurzstrecke die optimale Alternative zum Auto. Eine, mit der man meist deutlich schneller ans Ziel kommt, dabei etwas für die Gesundheit tut – und vor allem Spaß hat“, ist Prediger überzeugt. Gerade die gesellschaftlichen Vorteile wie fittere Mitarbeiter und eine bessere Umwelt liegen Prediger sehr am Herzen.

Für ihn ist das Leasing-Modell, das übrigens jeder Arbeitnehmer unabhängig von der Gehaltsstufe nutzen kann, ein wichtiger Bestandteil der Mitarbeiterbindung in einem Unternehmen. „Wir sind Teil eines Gesamtpakets. Es gibt viele Unternehmen, die das Leasing-Angebot in der Stellenausschreibung als Mehrwert anführen“, erklärt der Visionär.

Prediger ist vom Erfolg des Dienstrades überzeugt, weil die Mobilität in den nächsten Jahrzehnten einen starken Wandel durchlaufen werde. „Mit der Entwicklung des autonomen Fahrens und der entsprechenden digitalen Infrastruktur werden sich die Innenstädte völlig verändern und es wird deutlich weniger Autos geben. Das Radfahren im Alltag bekommt eine neue Qualität und einen anderen Stellenwert“, beschreibt er seine Zukunftsaussichten.

Radverkehr braucht Transportmöglichkeiten

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Der Croozer Cargo am Velomobil Orca. (Klicken zum Vergrößern).

Das Fahrrad als Alternative zum Auto auf Kurzstrecken weiter zu etablieren ist auch das Anliegen von Andreas Gehlen. Für ihn funktioniert das allerdings nicht ohne Transportmöglichkeiten.

 Gehlen gründete deshalb vor 25 Jahren in einem Kölner Hinterhof das Unternehmen Zwei plus zwei. „Mit dem Versandkatalog hatte ich die Vision, interessierten Radfahrern in Deutschland die Welt der Fahrradanhänger näher zu bringen“, schildert er.

Er lebte das selbst vor und kutschierte seine damals dreijährige Tochter in einem ersten Anhänger durch Köln. „Wir waren die Kings“, blickt er stolz zurück. Heute arbeitet die Tochter mit im Unternehmen, das 40 Mitarbeiter umfasst.

Über die Jahre hinweg hat sich Zwei plus zwei zum Anhängerspezialisten entwickelt und vor 15 Jahren die Eigenmarke Croozer hervorgebracht, nach der die Firma nun benannt ist und die mittlerweile zu den Marktführern bei Transportlösungen und Kinderanhängern zählt.

Klimawandel fordert Umdenken

In Kombination mit E-Bikes sind Anhänger aller Art gerade in der Stadt für Gehlen eine kostengünstige und flexible Lösung für Mobilität und Logistik. „In wenigen Jahrzehnten werden mehr als 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Städtische Räume mit ihren komplexen Infrastrukturen und hohen logistischen Verdichtungen ermöglichen eine Reduzierung von alltäglichen Wegen auf wenige Kilometer“, so der Visionär.

Der Klimawandel fördere deshalb ein grundlegendes Umdenken und verändertes Handeln in der Gesellschaft und im persönlichen Umfeld, damit Mobilität emissionsfrei oder aus regenerativen Energien ermöglicht wird. Seinen Ideenanstoß bekam Gehlen übrigens bei einer Reise nach Ghana mit Blick auf die dortigen praktischen Transportmöglichkeiten.

Nachhaltige Produktion kommt an

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Dopelt nachhaltig: My Boo „My Volta“ erstes Pedelec mit Bambusrahmen (Klicken zum Vergrößern).

Das westafrikanische Land hat auch für Maximilian Schay und Jonas Stolzke eine große Bedeutung. Die beiden Jungunternehmer aus Kiel verbindet die Vision, ein sozial nachhaltiges Fahrrad zu bauen.

Sie entwickelten ein Geschäftsmodell, das sowohl ihr eigenes Unternehmen als auch ein Partnerprojekt in Ghana beinhaltet. Die Idee für My Boo, einem Produzenten für Fahrräder mit Bambusrahmen, war geboren.

Die Rahmen aus dem nachwachsenden Rohstoff werden in Ghana gefertigt und Verkaufserlöse in Europa genutzt, soziale Projekte am Produktionsstandort zu finanzieren. „Wir wollten von Beginn an einen konkreten Beitrag dafür leisten, dass junge Menschen in der Ashanti-Region eine Schulbildung bekommen. Zudem sollen sie in unserer Rahmenmanufaktur eine gute Ausbildung und eine faire Bezahlung erhalten“, erklärt Schay.

Um die Familien zu ernähren, sind eine Ausbildung sowie ein fester Job wichtige Faktoren. Das schafft Unabhängigkeit, neue Perspektiven für die Menschen vor Ort und zeigt ihnen auf, dass sie ihren Erfolg selbst erarbeiten können.

Verkauf hilft Menschen in Afrika

Das Konzept funktioniert. Seit fünf Jahren bietet My Boo eine breite Modellpalette auf dem europäischen Markt an und ist heute Marktführer bei Bambusrädern.

In Ghana konnte deshalb bereits eine große Manufaktur gebaut werden, die rund 35 Menschen ein geregeltes, sozialversichertes Einkommen bietet. Zusätzlich wurden rund 100 Schulstipendien finanziert. Aktuell wird der Bau einer Schule vorangetrieben, die etwa 1.000 Schülern eine Ausbildung ermöglichen soll.

Als wichtige Aspekte für den weiteren Erfolg sehen die beiden Entwickler das Thema Elektromobilität. „Wir setzen bei der Ausrichtung unserer künftigen Modellpalette stark darauf und haben bereits mit dem My Volta ein erstes E-Bike mit Bambusrahmen im Katalog“, so Stolzke.

Das Wachstum der Firma hierzulande sorge gleichzeitig dafür, dass in Ghana zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. „Wir wollen als Unternehmen Vorbild für andere sein und zeigen, dass ein nachwachsender Rohstoff, konkrete soziale Aktivitäten und Profitabilität sehr wohl und gut zusammen funktionieren“, sieht Stolzke sein Unternehmen in einer Art Vorbildfunktion. Mehr Nachhaltigkeit, Transparenz und Fairness in der Lieferkette sind ein entscheidender Faktor für die zukünftige Arbeitsweise vieler Unternehmen, so seine Vision.

[Text& Fotos: PD-F]

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Alexander Theis
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