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Über'n Tellerrand Urlaub

Von Grand-Toures, Gravelbikes und Großtrappen

Lesezeit etwa 11 Minuten

Zu den Hobbys von pd-f-Redakteur Arne Bischoff gehört die Vogelbeobachtung. Per Zufall erfuhr er, dass der ehemalige Radprofi Jens Voigt ebenfalls begeisterter Hobby-Ornithologe ist. Gemeinsam machten sie sich auf eine Tour durch die Brandenburger Heide, um das Balzverhalten von Großtrappen zu beobachten.

„Was meinst Du? Wie viele Greifvogelarten sehen wir heute? Fünf?“ Nicht die typische Begrüßung unter zwei positiv Fahrradbekloppten, aber die erste Frage, die Jens mir an diesem Vormittag stellt.

Denn Jens Voigt (Spitzname „Voigte“) ist nicht nur einer der erfolgreichsten deutschen Radsportler überhaupt, Ausreißerkönig mit zwei Etappensiegen bei der Tour de France, zweifacher Deutschland-Tour-Gewinner, fünffacher Gesamtsieger beim Critérium International und ehemaliger Stundenweltrekordhalter; Jens Voigt ist auch begeisterter Vogelfreund, Hobby-Ornithologe oder auch Avifaunist, wie man etwas präziser sagt.

Graveln im brandenburgischen Sand

Unser Plan für diesen warmen Tag im Mai: Von Rathenow, das passenderweise den Beinamen „Stadt der Optik“ trägt, fahren wir, unsere Fernoptik sicher in den Radtaschen verpackt, über verschlungene Pfade, vorbei an Seen, durch dichte Wälder und ausgedehnte Feuchtwiesen nach Buckow. Entspannte 50 Kilometer Gravelbike-Tour durch den brandenburgischen Sand mit dem Ziel: die letzten Großtrappen Mitteleuropas.

Der Zeitpunkt ist nicht zufällig gewählt: Anfang Mai balzen die bis zu einem Meter großen und 17 Kilogramm schweren Großtrappen-Männchen spektakulär um die Gunst der Weibchen. Wie bei vielen Vogelarten gilt auch bei Großtrappen Damenwahl. Und die Balz wollen wir ansehen.

Den Start in Rathenow hatte Jens vorgeschlagen. Sein Trauzeuge lebt hier. Die St.-Marien-Andreas-Kirche – im zweiten Weltkrieg vollständig zerstört und ab 1996 wieder aufgebaut – thront im für die Stadt typischen, roten Backstein auf einem Hügel über der Havel. Den Kirchturm hat sich ein Turmfalke – nomen est omen – zum Wohnsitz gewählt. Wir sind noch keinen Kilometer gefahren und unser Greifvogel-Score steht auf Eins.
 

No regrets

Ob es noch kribbelt, wenn er als Eurosport-Experte auf dem Motorrad und mitten im Peloton unterwegs ist, will ich von Jens wissen, als wir aus Rathenow hinaus und einen schmalen, wurzeligen Singletrack am Ufer des Wolzensees entlangfahren. „Keine Spur“, sagt er.

Jedenfalls nicht das Kribbeln, weil man selbst dabei sein will. „Wenn es kribbelt, dann höchstens, weil das Peloton entscheidet, mit 80 den Berg hinunterzuballern und ich hinten auf dem Motorrad sitze“, lacht Jens, der übrigens selbst Motorradfahrer ist.

Er habe so lange Zeit gehabt, sich auf das Karriereende vorzubereiten, viel mit anderen Sportlerinnen und Sportlern gesprochen und die Gefahr gesehen, den Rücktritt vom Rücktritt zu wagen. Deshalb ist er einfach so lange gefahren, bis es reichte mit dem Leiden und der Quälerei. „Meinen Kindern habe ich damals gesagt: Wenn ich jemals anfange Worte wie ‚Comeback‘ in den Mund zu nehmen, dann bindet mich zu Hause fest!“

Dem Radsport ist er als TV-Experte und Trek-Markenbotschafter trotzdem treu geblieben. Eine Mischung aus Leidenschaft und Vernunft. Sein großer Traum sei ein Buchladen mit Café gewesen, sagt „Voigte“. Aber mit einer Familie mit sechs Kindern war das ökonomisch einfach nicht vernünftig.

Jens Voigt

Jens Voigt (Jg. 1971) ist einer der erfolgreichsten deutschen Straßenradsportler. Zwischen 1998 und 2014 nahm er an jeder Tour de France teil und erzielte bei 17 Teilnahmen zwei Tour-Etappensiege. 2014 verbesserte er den Stundenweltrekord auf 51,115 Kilometer.

Seit seinem Karriereende arbeitet er als TV-Experte und Kommentator für Eurosport und Trek-Markenbotschafter. Jens Voigt lebt mit seiner Frau und sechs gemeinsamen Kindern in Berlin.

Tiere am Wegesrand

Unser Schnitt liegt unter 20 km/h auf dem Weg nach Buckow. Dabei hatte ich extra zum E-Gravelbike gegriffen, weil ich wirklich Angst hatte, mit dem Ex-Profi nicht mitzukommen. Rückblickend wäre das nicht nötig gewesen. „Voigte“ ist ein extrem entspannter Mitfahrer, der sich auch auf ein langsameres Tempo sehr gut einstellen und mit dem man auf dem Rad über Gott, die Welt und seine vielen Interessen quatschen kann.

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Heute ist er auf seinem alten Canti-Crosser unterwegs, weil sein top-aktuelles Trek-Checkpoint-Gravelbike mit einem Leck am Ausgleichsbehälter der hydraulischen Scheibenbremse außer Gefecht ist. Das langsame Tempo liegt aber nicht am Material.

Ständig halten wir an, um nach Tieren zu schauen. An einem Seeufer halten wir an, weil Jens im Schilfrand brütende Weihen vermutet. Und tatsächlich: Über dem Röhricht balzen im charakteristischen Gaukelflug zwei Rohrweihen. Und wir haben unsere nächste Greifvogelart.

Ebenso anmutig ist die Ringelnatter, die sich am Wegesrand sonnt. Unsere Annäherung findet sie nicht so prickelnd und verschwindet unter den freiliegenden Wurzeln einer Kiefer. Jens und ich sind trotzdem begeistert. Leuchtende Augen, das Radfahren ist ganz vergessen. Echte Entdeckerfreuden!

Wildes Kind und Engagement in der Nachwuchsförderung

Beides, die Liebe zur Natur und das Radfahren, begleiten Jens Voigt schon sein ganzes Leben lang. Er sei ein wildes Kind gewesen, erinnert er sich: „Heute wäre mir vielleicht was-weiß-ich diagnostiziert und behandelt worden, aber damals hieß es nur: ‚Der Junge hat zu viel Energie. Er muss sich einfach austoben.‘“

Austoben bedeutete für Voigt, Jahrgang 1971, im nordwestmecklenburgischen Dassow in der DDR aufgewachsen, einfach draußen zu sein. Geld für große Sprünge und teure Sportgeräte war nicht da. Dann kam vom Radsportverein ein Angebot an die Kinder: „Macht bei uns mit und ihr bekommt ein Rad zum Training.“ Jens hatte sein Freiheitsvehikel gefunden und das Sportgerät zum Austoben.

„Sport war ja in der DDR eine Form der internationalen Diplomatie, um die Stärke des Sozialismus in der Welt zu zeigen. Da waren Staat und Schulen schon sehr hinterher.“ Der Rest ist Geschichte, wie man so sagt.

Begeisterung, Energie, Erfolge.

Heute engagiert sich Jens selbst in der Nachwuchsförderung, u. a. als Botschafter der „Kinder-Joy-of-Moving-Mini-Tour“, die Kinder spielerisch für den Radsport begeistern und Eltern unterstützen will, ihren Nachwuchs auf diesen Weg zu begleiten.

Der 17-malige Tour-Teilnehmer schaut durchaus sorgenvoll auf die Zukunft des deutschen Radsports. Aktuell, bei den zirka 15- bis 20-Jährigen, stehe Deutschland extrem gut da. In den Altersgruppen darunter werde es aber schnell dünner.

Die Gründe seien vielfältig, sagt Voigt: Der Sport ist teuer, viele Eltern sind über die Risiken des Trainings im Straßenverkehr besorgt und immer weniger Kids begeistert, sich dem harten Training und der strikten Ernährungsdisziplin zu unterwerfen.

Von Staat und Gesellschaft wünscht er sich mehr finanzielle Unterstützung der Vereine und weniger Bürokratie bei der Genehmigung von kleinen, lokalen Rennen: „Das ist so schwierig geworden, weil so viele Ämter mitsprechen. Und so teuer, weil die Auflagen immer mehr werden. Dabei sind die Rennen vor Ort so wichtig für den Nachwuchs.“

Nur noch eine kleine Schiebepassage über den sandigen Großen Berg (82 m ü. NN) trennt uns von Buckow. Unterwegs entdeckt Jens noch ein Nest, das er für ein Habichtsnest hält. Vollkommen sicher sind wir uns nicht, aber das tut der Begeisterung keinen Abbruch.

Dr. Eckhard Gottschalk, Biologe an der Uni Göttingen, unterscheidet zwischen „Brut-Ornis“ (also Ornitholog:innen, die sich v. a. für die heimischen Brutvogelarten begeistern) und „Zug-Ornis“ (die sich v. a. für die exotischeren Durchzügler interessieren). Jens ist ein Brut-Orni. Greifvögel sind seine liebste Artengruppe unter den Vögeln. Er kennt die heimische Flora und Fauna extrem gut und begeistert sich für alles, das er selbst entdecken kann. Und für Haie. Aber das ist ein Ausreißer.

Zu Besuch beim „Märkischen Strauß“

Die Großtrappe ist durch das Engagement vieler Naturschützerinnen und -schützer nach wie vor genau so ein heimischer Brutvogel. Ursprünglich stammt sie aus den Steppenlandschaften Zentralasiens, besiedelte aber nach der letzten Eiszeit (vor 10–12.000 Jahren) unsere Breiten und erlebte ihren Höhepunkt nach dem Mittelalter, als sie die durch Rodungen entstandenen Kulturlandschaften Mitteleuropas als Habitat entdeckte.

Im 19. Jahrhundert war die Art nahezu in ganz Europa verbreitet. 1939 lebten in Deutschland ca. 7.000 Tiere, etwa die Hälfte davon in der damaligen Mark Brandenburg, was dem Vogel neben seiner enormen Größe den Beinamen „Märkischer Strauß“ einbrachte. Mitte der 1990er-Jahre stand die Großtrappe jedoch mit nur noch 57 Tieren in Deutschland kurz vor dem Aussterben. Die Gründe für die große Trappenkrise sind vielfältig.

Intensive Bejagung im 18. und 19. Jahrhundert dezimierte die Population, aber vor allem die intensive, industrielle Landwirtschaft und der damit verbundene Verlust an Lebensraum, Nahrung und Brutplätzen setzten die Trappen wie so viele andere Offenlandarten massiv unter Druck.

In Buckow empfangen uns Marcus Borchert und Henrik Watzke vom Förderverein Großtrappenschutz. Der Verein widmet sich dem Erhalt der bedrohten Großvögel in der staatlichen Vogelschutzwarte Brandenburg. Das Naturschutzgebiet Havelländisches Luch ist neben den Schutzgebieten Belziger Landschaftswiesen und Fiener Bruch (Sachsen-Anhalt) einer von nur noch drei Orten, wo die letzten 300 deutschen Trappen leben. Dass es überhaupt wieder so viele sind, ist Menschen wie Watzke und Borchert und den vielen anderen haupt- und ehrenamtlichen Naturschützerinnen und -schützern zu verdanken.

3fach mal Glück

Dem Engagement verdanken wir an diesem Tag ein tolles Erlebnis. In unmittelbarer Nachbarschaft der Vogelschutzwarte liefern gleich drei männliche Trappen ein einmaliges Schauspiel.

Schon durch das Fernglas ist die spektakuläre Balz hervorragend zu sehen, mit den vergrößerungsstarken Spektiven sehen wir formatfüllend und zum Greifen nah, wie die Männchen einen Großteil ihres Gefieders von innen nach außen krempeln und ihre weißen Federn schütteln und vorzeigen, während Kopf und Hals nach Kranichart auf dem Rücken liegend verborgen sind.

Die anwesenden Weibchen teilen Jens’ und meine Begeisterung nicht im selben Maße. Wir können aber extrem gut sehen, wie viel kleiner sie sind. „Großtrappen besitzen den stärksten Geschlechtsdimorphismus aller Vogelarten. Nirgends sonst ist der Unterschied zwischen den Geschlechtern so groß“, bestätigen die Experten.

Wir erfahren, dass das Herz der Hähne jetzt bei der Balz bis zu 900-mal pro Minute schlägt und dass die Population trotz der geringen Individuen-Zahl genetisch vollkommen gesund ist. Für Jens und mich ist Natur immer wieder ein Wunder!

Mit unseren Bikes rollen wir die wenigen Kilometer zum großen Beobachtungsturm, der einen fantastischen Überblick über das topfebene Gebiet erlaubt. Fast bis zum großen Wall können wir schauen, der beim Bau der ICE-Trasse Hannover–Berlin in den 1990er-Jahren zum Trappenschutz aufgeschüttet wurde.

Vielfältige Schutzmaßnahmen

In Buckow wird die Trappe schon seit 1978 aktiv geschützt. Innerhalb des heute über 5.500 Hektar großen Naturschutzgebiets bilden zwei von Schutzzäunen umgebene Flächen von ca. 20 und 30 Hektar das Kernstück der Schutzmaßnahmen: Künstliche Bebrütung und Auswilderung gehören genauso zum Maßnahmenmix wie aktiver Gelegeschutz, Habitatgestaltung und Prädationsmanagement, also u. a. die Errichtung von Schutzzäunen und die Bejagung der natürlichen Feinde der Großtrappen wie Fuchs, Waschbär und Marderhund.

„Langfristig brauchen wir vor allem wieder eine vielfältige, strukturreiche Landschaft und eine Extensivierung der Landwirtschaft mit weniger Düngemittel- und Pestizideinsatz. Das kommt auch anderen Arten des Offenlands wie Kiebitzen, Rebhühnern und Feldlerchen zugute, die wie die Großtrappen unter großen Bestandsverlusten leiden“, sagen Watzke und Borchert.

Langfristig sei das Ziel, dass sich die Population ohne menschlichen Eingriff selbst trage. „In Buckow sind wir davon nicht mehr so weit entfernt.“ Wie so eine Landschaft aussieht, erleben wir gerade live. Die Trappen balzen, ein Kiebitz sitzt auf seinen Eiern und direkt vor unserer Nase paaren sich zwei Große Brachvögel! Die Welt ist schön.

Die Vogelschutzwarte Buckow

Die Staatliche Vogelschutzwarte Brandenburg liegt in Nennhausen/OT Buckow, ca. 70 Kilometer westlich von Berlin. Unter dem Dach der Vogelschutzwarte arbeitet auch der Förderverein Großtrappenschutz. Der Verein bietet gemeinsam mit dem NABU Westhavelland auch öffentliche Führungen durch das Gebiet an.

Vom wilden Kind zum Ausreißerkönig

Der Rückweg nach Rathenow ist nur noch Ausrollen. Eine Sache lässt mir aber keine Ruhe. Wie ist Jens Voigt zum Ausreißerkönig geworden? War das geplant, oder ist das so passiert mit der spektakulären Art, wie er Radrennen fuhr?

„Ganz einfach! Ich hab mir meine Karten angeschaut. Das Blatt auf meiner Hand. Was ich kann. Und dann hab ich entschieden, dass das meine einzige Chance ist.“ Ein Stück vom wilden Kind, das toben will, hat ihn durch seine ganze Karriere begleitet. Nicht stillsitzen im Peloton, sondern attackieren im Wind. Und wenn es nicht klappt, einfach wieder versuchen und wieder.

Der Rest der Fahrt ist „Politik und Bratkartoffeln“. Wir sprechen über die Rückkehr des Wolfs, Immobilienpreise und natürlich über Fußball. Greifvogelarten sind es übrigens sechs geworden.

Arne Bischoff

Arne Bischoff arbeitet hauptberuflich als Fahrradjournalist beim pressedienst-fahrrad. Eigentlich schlägt sein Herz fürs Mountainbiking. Erst das Gravelbike hat ihm die Dropbar-Welt eröffnet. Als begeisterter Avifaunist engagiert er sich ehrenamtlich in Monitoring- und Vogelschutzprojekten u. a. für den Nationalpark Harz und die Universität Göttingen. Seine Naturfotografie veröffentlicht er unterwww.imagesandbirds.com.

Hinweis:
Diese Reportage wurde in einer gekürzten Form erstmals in Bike-Bild 3/23 veröffentlicht.

[Text & Fotos: P-DF]

Alexander Theis
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