Die Jörn GmbH baut eine Gummifederung für’s Fahrrad. Ein Interview mit dem technischen Geschäftsführer Kai Reinke.
Fällt das Wort „Federung“ im Zusammenhang mit E-Bikes denkt man meist an Federgabeln vorne und eine mehrgelenkige Schwinge am Hinterrad. Bei E-Mountainbikes macht das auch Sinn, denn auf ruppigen Trails braucht man möglichst viel Federweg um starke Schläge wegstecken zu können.
Die allermeisten Menschen sind jedoch im urbanen Raum und auf befestigten Straßen unterwegs. Dort ist eine Federung ebenfalls ein Komfortmerkmal. Jedoch benötigt man selten lange Federwege. Dazu kommt, dass eine Federgabel das Gewicht des Fahrrads erhöht und auch regelmäßig gewartet werden muss. Ein Punkt, der oftmals vernachlässigt wird.
Die Jörn GmbH aus Waiblingen in Baden-Württemberg hat für diese Probleme eine Lösung gefunden: Eine Federung aus Gummi!
Im Interview erklärt Kai Reinke, technischer Geschäftsführer der Jörn GmbH, die Details der bereits preisgekrönten Federung.
Herr Reinke, wie kam es zu der Idee eine Gummifederung fürs Fahrrad zu entwickeln?
Kai Reinke:
Auf einer langen Autofahrt mit meinem Kollegen Thomas Uhlig. Herr Uhlig war früher sehr ambitionierter Radamateur, ich selbst war Triathlet. Wir beide haben also schon viel Zeit im Sattel verbracht.
Wir bei Jörn sind Spezialisten für Gummifederungen bei Landmaschinen, LKW und Zügen. Und so kam im Laufe dieser Autofahrt die Idee auf, unser Wissen über den Werkstoff Gummi auf eine Fahrradfederung zu übertragen.
Wirklich Gummi als Federung?
Kai Reinke:
Gummi in Verbindung mit Metall ergibt hervorragende Bauteile für Federn und elastische Gelenke. Ein wichtiger Vorteil dieses Werkstoffes ist bei richtiger Anwendung seine Robustheit. Gummigelenke erreichen die notwendige Beweglichkeit durch reine elastische Verformung des Materials, wir nennen das Molekularverformung. Im Gegensatz zu Gleit- oder Wälzlagern gibt es keine Reibung und damit auch keinen Verschleiß. Gerade für kleine Bewegungen, kleine Verdrehungen, ist dies ein großer Vorteil gegenüber den anderen Lagertypen.
Deswegen wurden sukzessive z.B. im LKW-Fahrwerk fast alle geschmierten gleitenden Gelenke und Lenkerlager durch Gummi-Metalllager ersetzt. Solange Gummi nicht auf Zug beansprucht wird, sondern nur auf Druck oder Schub, halten die Bauteile daraus extrem lange. Zugbelastungen, die auf ein Bauteil wirken, müssen und können durch eine hohe Druckvorspannungen im Bauteil ausgeglichen werden. Das ist eigentlich der Kern einer richtigen Gestaltung von Gummifedern.
Und wie funktioniert die Federung am Fahrrad?
Kai Reinke:
Wir haben im ersten Schritt aus dem Hinterbau eines klassischen Fahrrads eine Lenkerkonstruktion in Anlehnung an LKW-Fahrwerke gemacht. Dann gibt es ein drehelastisches Gelenk am Tretlager. Es wird eine Buchse, in diesem Fall eine Schlitzbuchse, verwendet, die besonders elastisch bei Verdrehung ist, aber in anderen Richtungen sehr steif bleibt.
Diese Buchse wird in das Tretlagergehäuse des Rahmens eingepresst. In das Innenrohr der Gummibuchse wird das eigentliche Tretlager eingebaut. An dem Innenrohr der Gummibuchse werden die nach hinten führenden Kettenstreben befestigt. Es ergibt sich ein mit einer Drehfeder gelagerten Lenker.
Zur Stabilisierung sind nach wie vor Sitzstreben, die von den Ausfallenden, zwischen denen das Hinterrad geklemmt wird, zum oberen Sitzrohr führen, erforderlich. Die Verbindung der Sitzstreben zum Sitzrohr erfolgt mit Hilfe eines weiteren Gummilagers. Dieses Lager ist ein sogenanntes V-Lager, wegen der V-förmig angeordneten Gummikörper. Es ist in Richtung der Sitzstreben elastisch und kann einfedern. An diesem Lager wird die eigentliche Federcharakteristik bestimmt.
In Querrichtung ist dieser Lagertyp sehr hart und gibt kaum nach. Bei sehr harten Sitzstreben ist ein weiteres drehelastisches Gelenk an den Ausfallenden zur Verbindung von Sitz- und Kettenstreben erforderlich. Auch hier setzen wir eine Schlitzbuchse ein.
Bei dieser Art der Federung bewegt sich die Hinterachse auf einer Kreisbahn um das Tretlager. Die Abstände zwischen Tretlagerachse und Sattel, eine Veränderung dieses Abstandes wird als unangenehmes Wippen empfunden, sowie zwischen Hinterachse und Tretlager verändern sich beim Federn nicht. Damit kann der ebenfalls wartungsfreundliche Riemenantrieb ideal mit unserer Federung kombiniert werden.
Ist auch eine Federung des Vorderrads möglich?
Kai Reinke:
Ja, allerdings konstruktiv anders. Beim Vorderrad wird der Lenker gefedert, der beim Federn in das Steuerrohr eintaucht. Hier arbeitet eine Druckfeder auf Basis eines PU-Schaumes und der Lenkervorbau wird durch eine Linearführung mit Walzenlagern geführt. Diese Anordnung hat den Vorteil, dass sich die Position der Räder, anders als bei Federgabeln, beim Federn nicht verändert. Die Kräfte in Fahrtrichtung durch Bremsvorgänge oder etwa Bordsteinkollisionen werden bei diesem Konzept auch nicht über die Linearführung geleitet, so dass sie filigraner und reibungsärmer ausgeführt werden kann.
Funktioniert das nur in der Theorie?
Kai Reinke:
Wir haben diese beiden Federungen in einem Trekkingrad als Erprobungsträger und Vorführrad umgesetzt. Damit können sich Kunden einen realistischen Eindruck von der Wirkung verschaffen und so manche Bedenken können ausgeräumt werden.
Ist Ihre Federung nur etwas für Trekkingräder?
Kai Reinke:
Die Übertragung auf entsprechende Fahrwerke von Lastenrädern sowie auf eine Federung vorne ist ein kleiner Schritt. Natürlich müssen die Federeigenschaften und die Belastbarkeiten an die individuellen Anforderungen angepasst werden. Das jedoch ist wiederum unsere tägliche Arbeit.
Mit dem Cargoline Lastenrad der Kettler Alurad GmbH ist seit Anfang 2021 ein erstes Modell mit der Jörn Federung am Markt erhältlich. Hier ist die Vorderradschwinge drehelastisch am Rahmen befestigt und die Ladefläche stützt sich über ein V-Lager federnd auf der Vorderradschwinge ab.
Dieses Rad wird in Fachkreisen gelobt und wurde mit dem Red Dot Product Design Award 2021 und kürzlich dem Eurobike Gold Award 2021 ausgezeichnet.
Gelobt wurden dabei das Design und vor allem die Funktionalität mit dem innovativen Lenkungssystem und der Federung. Die Federung selbst ist beim Dr. Rudolf Eberle Preis 2021, dem Innovationspreis des Landes Baden-Württemberg mit einer Anerkennung ausgezeichnet worden.
Bei der Auslegung und Dimensionierung der Gummi-Metalllager haben wir uns an den speziellen Anforderungen von Lastenrädern orientiert, so dass hier eine robuste, dauerhafte und wartungsfreie Federung entstanden ist.
Wo liegt die Innovation Ihrer Art der Gummifederung?
Kai Reinke:
Die Innovation liegt in der Übertragung eines hervorragend funktionierenden Systems von einer Branche auf eine andere Branche, sowie in der Anpassung im Detail. Der größte Hemmschuh war Skepsis gegenüber der Übertragbarkeit und Vorbehalte gegenüber Gummi als Konstruktionswerkstoff.
Es gab in der Fahrradbranche immer mal wieder zaghafte Versuche Gummielemente einzusetzen. Die waren jedoch nicht konsequent und sind somit gescheitert. Natürlich ist diese Federung inzwischen auch patentiert.
Wo liegen aus Ihrer Sicht die Vorteile einer Gummifederung?
Kai Reinke:
Die erste Frage dazu wäre eigentlich: Wie viel Federung braucht man am Fahrrad? Die Antwort: kommt drauf an!
Die Federung der Jörn GmbH ermöglicht Einfederungen von 15 bis 20 mm. Das scheint angesichts von martialischen Federgabeln wenig zu sein. Nur bedeutet ein großer möglicher Federweg zunächst nicht unbedingt auch viel Komfortgewinn. Um diesen Weg auszunutzen, müsste die Federung entsprechend weich sein. Zu viel Weichheit kann aber sich aber auch schwammig anfühlen. Man kennt ähnliche Effekte aus den amerikanischen Limousinen aus den 70er Jahren. Gerade am Lenker will man das vielleicht gar nicht. Unsere Tests mit vielen Versuchspersonen haben ergeben, dass eine Einfederung am Lenker von 10 bis 15 mm auf einem groben Feldweg am komfortabelsten war. Natürlich mag das Ergebnis ein anderes sein, wenn man in schwerem Gelände oder gar Downhill unterwegs ist.
Für Alltagsstrecken – und darum geht es der Jörn GmbH – reichen Einfederungen von 10 bis 15 mm völlig aus. Diese Einfederungen ermöglichen es, Unebenheiten, wie sie auf Kopfsteinpflaster und Feldwegen auftreten, angenehm abzufedern.
Für gewerblich eingesetzte Fahrräder und vor allem Lastenräder kann die Richtlinie für Arbeitsstätten im Hinblick auf die Schwingungsbelastung der Fahrer*Innen ohne eine Federung kaum eingehalten werden. Auch empfindliche Lasten werden deutlich weniger durchgeschüttelt.
Die Federung ist robust und wartungsfrei. Somit kann man diese Elemente viele Jahre lang völlig ihren Job machen lassen, ohne sich darum kümmern zu müssen. Federungen dieser Art werden so in die Fahrwerke von LKW eingebaut, in den Fahrwerken von schweren Land- und Baumaschinen eingesetzt und finden in Eisenbahndrehgestellen Verwendung. Natürlich müssen sie an die Anforderungen angepasst werden. Mit anderen Worten hohe Lasten in großer Häufigkeit müssen überhaupt kein Problem sein.
Und diese Federungen lassen sich gut und unauffällig ins Fahrrad-Design integrieren, was man besonders gut beim Cargoline Lastenrad der Kettler Alurad GmbH sieht.
Verändert sich die Federung nicht bei unterschiedlichen Temperaturen?
Kai Reinke:
Ja, sie verändert sich im Laufe der Zeit und auch bei unterschiedlichen Temperaturen. Den größten Anteil der Veränderungen im Laufe der Zeit kann man konstruktiv kompensieren.
Die Veränderungen der Eigenschaften bei unterschiedlichen Temperaturen gibt es. Allerdings werden sie erst relevant bei Umgebungstemperaturen von -40°C oder +70°C. Dazwischen sind die Änderungen messbar, aber nicht spürbar.
Es erfordert natürlich einiges an Expertise, um diese Gegebenheiten angemessen zu berücksichtigen. Diese Expertise ist bei uns vorhanden: Das Entwicklungsteam der Jörn GmbH kann auf die Erfahrung von knapp 60 Jahren in der Entwicklung von Gummi- und von Gummi-Metallteilen zurückgreifen.
Herr Reinke, vielen Dank für das Gespräch!
Mehr zum Thema gibt es auf der Website der Jörn GmbH.
[Text:[at] & Jörn GmbH, Fotos: Jörn GmbH]
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