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Interview

Bikefitting: Experte Sebastian Risse von RS Individual im Interview

Lesezeit etwa 10 Minuten

[at] Manch einer hat schon den Begriff „Bikefitting“ gehört. Doch was genau steckt dahinter? Sebastian Risse, Bikefitting-Experte und Inhaber von RS Individual aus Erfurt erklärt im Interview mit VeloStrom die Hintergründe.

 
Alexander Theis: Hallo Sebastian, danke dass du dir etwas Zeit für ein Interview nimmst. Du bist „Bike-Fitter“, was macht denn so ein Bike-Fitter?

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Sebastian Risse, Bikefitting-Experte und Inhaber von RS Individual

Sebastian Risse: Hallo Alex, vielen Dank für die Gelegenheit, das Bikefitting und mich etwas näher vorstellen zu können. Für einen Bikefitter steht die Person des Radfahrers (der Radfahrerin) im Mittelpunkt. Nach dem Fitting muss das Fahrrad zu einem selbst wie der italienische Anzug passen. Dabei gehe ich auf alle Kontaktpunkte zwischen Mensch und Fahrrad ein: das sind Hände-Lenker, Hintern-Sattel und Fuß-Pedal sowie die Schmerzzonen, die mir von der zu fittenden Person mitgeteilt wurden, wie Finger, Rücken oder der Nacken-Bereich.

Alex: OK, du kümmerst dich also darum, dass ich mit meinem Fahrrad möglichst lange ohne Schmerzen fahren kann. Wie kam es denn, dass du jetzt als Bike-Fitter tätig bist?

Sebastian: Nicht nur das. Mein Ziel ist, das meine Kunden doppelt so oft und doppelt so gern Fahrrad fahren. Freiwillig. Weil es Ihnen einfach Spaß macht – die Schmerzen sich durch das Bikefitting „aufgelöst“ haben. Ziel ist das schmerzfreie Fahren, unabhängig von dessen Dauer, sowie ein effektiver und effizienter Krafteinsatz – dass die Kraft tatsächlich auch auf dem Pedal ankommt und dass man mit dem gleichen Krafteinsatz weiter kommt.

Mit 14 habe ich mir meine erstes Fahrrad selbst ausgesucht (heute bin ich 35) – einfach nur nach Sitzrohrlänge, wie das noch heute bei der Radauswahl fast ausschließlich gehandhabt wird. Nur führt das selten zu einer ergonomischen Sitzposition – wenn ich mir pi mal Daumen Fahrräder und deren Piloten ansehe. Ich selbst falle aus der Normalverteilung der Körpermaße raus; bei 1,95 m habe ich einen normallangen Oberkörper, etwas längere Arme und mit 1,17 m sehr lange Beine. Jedoch wird beim Verkauf eines Fahrrades auf die persönliche Statur nur unzureichend eingegangen. Da geht es wie erwähnt um Körpergröße und dann kommt da Größe XL oder XXL mit überlangen Vorbauten raus. Dann liegst du gestreckt auf dem Rad, die Sattelstütze ist zu kurz bemessen, und überall fängt es nach kurzer Zeit an zu schmerzen und brennen.

Ich habe mich viele Jahre damit beschäftigt, eine ergonomische Sitzposition zu finden. Allerdings ist die Literatur sehr spärlich, insbesondere die, die auf Ursachen eingeht. So kam mir erst 2015 das Bikefitting vor die eigene Linse und sofort war ich Feuer und Flamme. Denn jetzt konnte ich mich komplett vermessen und die Ursachen angehen, statt Symptome zu kaschieren. Ich weiß welche Veränderungen das Bikefitting bringt und beschreibe meinen Kunden genau was ich mache und wie es sich auswirkt.

Alex: Woher kommen denn überhaupt die Schmerzen beim Radeln?

Sebastian: Der Mensch wurde erschaffen, um zu gehen. Eine dauerhaft stehende oder sitzende Angelegenheit ist also nicht vorgesehen. Dementsprechend entstehen Schmerzen, wenn ich mich außerhalb des „Bewegungsfensters Gehen“ bewege. Hier sind die Forschungen in vollem Gange und der dementsprechende Erkenntnisgewinn.

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Das Rad muss richtig eingestellt sein.

Die Grundlagen zum Bikefitting kommen von Paul Swift aus den USA. In Europa war dies bisher kaum ein Thema, obwohl Radfahren sehr gesund ist und die urbane Zweiradmobilität an Fahrt gewinnt. Es ist jetzt an uns Bikefittern, die Menschen auf die passenden Räder zu setzen, damit das Radfahren noch mehr Spaß macht. Ein Rennrad bleibt dabei weiterhin ein sportives Renngerät auf dem ich auch nach dem bikefitting gänzlich anders sitze als auf einem Cityrad, das für die gemütliche Tour durch die Stadt geeignet ist.

Alex: Ja, das leuchtet ein. Früher sagte man, dass man nur lange genug fahren muss, dann würde der Körper sich schon ans Rad gewöhnen…

Sebastian: Ich bin absolut kein Anhänger davon, dass man beim Radfahren Schmerzen spüren muss. Das ist doch eher ein Todschlagargument. Wer Schmerzen verspüren will, der kann das doch auch in S-M-Studios ausleben. 😛 Selbstverständlich gewöhnt sich der Körper an Fehlhaltungen und der Reiz verschwindet mit der Zeit. Nur ist das niemals eine Lösung. Wir erwarten doch auch von unserem Arzt eine Lösung der Krankheit und kein Kleingerede des Symptoms.

Alex: Was kann ich denn tun, wenn ich schon nach wenigen Kilometern Radfahren vor Schmerzen kaum noch sitzen kann?

Sebastian: Grundsätzlich wird der Körper Reizsignale senden, wenn ich mich im Frühjahr nach mehreren fahrradfreien Monaten wieder auf das Fahrrad setze und wenige Kilometer fahre. Ist das Rad oder der Sattel jedoch bereits auf den Fahrer/Fahrerin eingestellt, reduzieren sich diese Reize bis auf Null.

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Die Ermittlung des Sitzknochenabstandes ist wichtig…

Oft sind die Sättel so weich, dass die Sitzhöcker bis auf die Kunstoffschale durchschlagen und extreme Schmerzen auslösen. Je weicher ein Sattel, desto größer ist die Kontaktfläche mit Sitzkochen und Schambeinast (hier verlaufen Nervenbahnen), desto höher ist demzufolge auch die Reizfläche. Es geht also darum die Kontaktfläche des Schambeinastes so klein wie möglich als auch den Flächen- und Spitzendruck so gering wie möglich zu halten. So wie es sich in einem straff gepolsterten Autositz angenehmer sitzen lässt als auf einer Fahrersitzcouch, so gilt das Gleiche auch für Fahrradsättel.

Zudem vermessen wir den Sitzknochenabstand um die Sitzknochen über den Sattel optimal abstützen zu können und wählen oft flache (Stufen-)Sättel, um den Druck auf dem Schambeinast effektiv zu reduzieren. Die meisten Sättel sind zu schmal und/oder zu rund ausgewölbt. Nimmt man an dieser Stelle noch eine Druckmessfolie zu Hilfe, bekommt man eine Darstellung der Druckverteilung und findet den Sattel in einer Stunde statt in einem jahrelangen Schmerztest.

Alex: Was beim Sattel geht, geht doch sicher auch bei tauben Händen oder Füßen, oder?

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…gleiches gilt für die Maße der Hände…

Sebastian: Definitiv ja. Im Hinblick auf die Hände schaue ich insbesondere auf eine knickfreie Handhaltung – also dass Ulnarisnerv (versorgt kleinen und Ringfinger) und der Medianusnerv (Mittelfinger bis Daumen) reizfrei agieren können. Ich betrachte dabei das Zusammenspiel aus Handposition zum Lenker, den Vorbau, die Griffe und die Montage der Brems- und Schalthebel.

In Bezug auf die Füße geht es um eine stabile Verbindung des Fußes zum Pedal. Die Grundlage eines vernünftigen Bikefittings beginnt bei der korrekten Position des Fußes auf dem Pedal. Ein Klickpedal hilft durch seine fixe Verbindung, die Kraft effektiv und effizient auf das Pedal zu bringen. Das Knie soll eine Senkrechte zwischen dem oberen und unteren Totpunkt beschreiben. Bei dieser Arbeit unterstützt mich ein Laser, der viel präziser arbeitet, als es ein Auge je könnte. 

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…und der Füße.

Im direkten Zusammenhang geht es dann weiter zum Knielot und zum Becken, mit der Optimierung der Sitzhöhe. Auch hierbei genügt nicht das Ausrechnen der Sitzrohrlänge anhand einer statistischen Verteilung, die Regression hat zu viele Schwachstellen, sondern die Arbeit am und mit dem Menschen.

Alex:Und mit einem anderen Sattel, Handgriffen oder Pedalen sind die Schmerzen sofort weg?

Sebastian: Die zu fittende Person sitzt während der Vermessung auf ihrem Rad und dieses steht auf der Rolle. Alle Änderungen kann und wird man deshalb sofort spüren. Der Schmerz wird in kürzester Zeit die Flucht antreten.

Alex: Es gibt also einiges zu beachten, wenn man das Rad an die eigene Anatomie anpassen will. Gibt es den „typischen“ Kunden für dich?

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Die Messungen erfolgen mit höchster Präzision.

Sebastian: Jeder Kunde ist individuell mit seiner oder ihrer speziellen Vorgeschichte. Bei jedem Kunde lernt man hinzu. Für mich ist das ideal. Es gibt kein Schema F. Das Vorwissen muss an jeden Kunden ausgelegt und angepasst werden.

Alex: Wie läuft denn so ein Beratungsgespräch bei dir ab?

Sebastian: Zuerst geht es um die persönlichen „Wehwehchen“, wo es zwickt und zwackt, damit ich mir ein erstes Bild machen kann. Danach folgt eine kurze Beweglichkeit-Session und unser BodyLab. Alles weitere findet dann auf dem Rad statt. Falls der Kunde neue Komponenten bekommt, werden diese selbstverständlich mit dem passenden Drehmoment montiert und es folgt eine ausführliche Dokumentation aller notwendigen Maße, um es später noch nachvollziehen zu können und/oder anhand der Geometriedaten das passende neue Fahrrad auswählen zu können.

Alex: Sind meine Beschwerden weg, sobald ich das neue Equipment montiert habe?

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Immer dabei: Umfangreiche Ausstattung.

Sebastian: Wenn die Ursache nicht an anderer Stelle liegen, dann ja.

Alex: Wo sind denn die Grenzen der Anpassung des Rades an die Anatomie oder den Einsatzzweck erreicht?

Sebastian: Solange es sich nicht um einseitig stark verkürzte Arme oder Beine handelt oder Rahmengeometrie und Körpermaße so gar nicht mit dem Kunden in Einklang zu bringen sind, ist alles lösbar.

Alex: Also ist es bei Rückenbeschwerden auf dem Rennrad eher sinnvoll das Rad zu wechseln als einen höheren Lenker zu montieren?

Sebastian: Im Bikefittingprozess entscheidet sich, ob denn ein neuer Vorbau oder anderer Lenker notwendig ist. Ich präferiere die Kundenbeziehung auf Augenhöhe.

Wenn ich meine Arbeit richtig mache, dann wird der Kunde sein nächstes Rad auch bei mir kaufen. Wenn der Kunde schmerzfrei und entspannter radeln kann und seinen Freunden und Bekannten davon erzählt, freue ich mich darüber. Jeder kann Fahrrad fahren und jeder hat es verdient, dass er während dessen Spaß statt Schmerz fühlt.

Alex: Sebastian, vielen Dank für das Gespräch!

Kontakt:

RADgeber by RS Individual
Schmidtstedter Str. 18
D-99084 Erfurt
Tel.: 0361 21834208
E-Mail: [email protected]
www.fahrradladen-erfurt.com
[Fotos: RS Individual]

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Alexander Theis
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