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Über'n Tellerrand

Paracycling: Matthias Schindler Deutscher Meister im Zeitfahren!

Lesezeit etwa 10 Minuten

Enttäuschungen und Erfolge: Matthias Schindler berichtet von der ersten Saisonhälfte.

Erfolg und Misserfolg liegen beim Sport oft nah beieinander. Doch die Erfolge sind deshalb umso mehr ein Grund zum Feiern! Paracycler Matthias Schindler berichtet von der ersten Saisonhälfte.

Matthias Schindler:

Erster UCI World Cup des Jahres

„Am 2. Mai bin ich gemeinsam mit Siw und Emma nach Ostende / Belgien gefahren. Dort fand der erste UCI World Cup des Jahres statt. Es war toll, wieder als Familie unterwegs sein zu können.

Leider war ich die Woche stark erkältet, überlegte sogar, den Weltcup abzusagen. Letztlich wurde es Tag für Tag besser und ich konnte mich in Belgien einigermaßen vernünftig auf die Rennen vorbereiten. Ich war im ständigen Austausch mit der Teamärztin und wir beschlossen, dass ich am 6. Mai im Zeitfahren in Belgien starten würde.

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Die Strecke in Ostende liegt mir. Dort habe ich in den letzten 3 Weltcups 4 Medaillen gewinnen können. Im vergangenen Jahr wurde ich 2. im Zeitfahren und 3. im Straßenrennen. Ich freute mich auf das Zeitfahren und hatte mir viel vorgenommen. Das Rennen lief ganz ordentlich, ich konnte im Durchschnitt mehr Watt treten als im Vorjahr. Allerdings war der Puls immer noch viel zu hoch und ich merkte schon, dass ich nicht 100%ig fit war. Am Ende belegte ich Platz 5. Die Leistung war unter den Umständen schon in Ordnung und gleichzeitig hatte ich mit einem Top5 Platz im Weltcup die Qualifikation für die WM in diesem Jahr geschafft. Dennoch hatte ich mir vom Ergebnis her mehr erhofft.

Zwei Tage später im Straßenrennen bemerkte ich dann, wie sehr mein Körper noch geschwächt war. Ich erholte mich in dem Rennen kaum. Jeder Antritt, jede Beschleunigung, jedes kurze Überziehen war gefühlt zu viel. Nach drei Runden konnte ich die Lücke zur Spitze nach der Ortsdurchfahrt nicht mehr schließen und fand mich in der Verfolgergruppe wieder. Das war mental nicht ganz leicht, fuhr ich doch im Vorjahr noch in der Spitzengruppe mit und gewann im Sprint Bronze. Am Ende belegte ich Platz 13.

Zweiter Weltcup

Von Ostende aus fuhren wir direkt zum zweiten Weltcup nach Elzach im Schwarzwald weiter. Mental war das nicht ganz leicht. Ich wollte natürlich nach den tollen letzten Jahren, auch in diesem Jahr wieder eine internationale Medaille holen. Ich wusste vor der Saison, welche Rennen dafür in Frage kommen. Ostende auf jeden Fall, das hat leider mit Platz 5 im Zeitfahren und Platz 13 im Straßenrennen nicht geklappt. Elzach kam dafür eigentlich nicht in Frage. Es gibt dort ein Bergzeitfahren und ein sehr technisches Straßenrennen. Hier war eine Medaille nicht realistisch.

Bergzeitfahren

Das gute war, dass ich mittlerweile wieder topfit war und keine Auswirkungen der Erkältung mehr spürte. Wir hatten super Wetter im Schwarzwald und ich konnte mich gut auf die Rennen vorbereiten. Die Strecken waren bekannt, das Bergzeitfahren bin ich in der Vergangenheit schon zwei Mal gefahren. Ich wollte unbedingt persönliche Bestzeit an dem Berg fahren und das gelang mir auch. Ich fuhr ein starkes Rennen, mehr ging nicht. Ich stellte einen neuen persönlichen Bestwert bei der Durchnittswattzahl über 40 Minuten auf und verbesserte meine Zeit auf der Strecke um 3:20 Minuten. Dennoch reichte es nur für Platz 9 im Zeitfahren. Mein erstes Ergebnis im Zeitfahren außerhalb der Top5 seit 2017.

Straßenrennen

Zwei Tage später im Straßenrennen erging es mir ähnlich. Ich konnte eine top Leistung abrufen und bis zur Hälfte des Rennens ganz vorn mitfahren. Dann bekomme ich die Lücke auf dem technischen Kurs aber nicht mehr geschlossen und fahre in der Verfolgergruppe auf Platz 10. Der Weltcup in Elzach war für mich von der Leistung her top. Das hat mir Mut gemacht. Allerdings sind die Plätze 9 und 10 nicht die Platzierungen, über welche ich mich so richtig freuen kann. Die eigene Tochter nach dem Rennen im Arm zu halten, ist allerdings unbezahlbar.

EM in Österreich

Von Elzach aus ging es für einen kurzen Stopp zurück nach Nürnberg. Am 25. Mai ging es dann weiter
zur EM nach Österreich. Siw und Emma waren natürlich wieder dabei. Die Zeitfahrstrecke der EM machte mir Mut. Auf dem Papier sah sie so aus, als könnte ich dort endlich die gewünschte internationale Medaille holen. Das Training auf der Strecke vor Ort bestätigte das Gefühl. Ich nahm mir viel vor und wollte unbedingt bei meiner ersten EM-Teilnahme aufs Podium.

Zeitfahren

Am 27. Mai startete ich dann beim Zeitfahren auf der leicht welligen, aber schnellen Strecke. Am ersten kleinen Anstieg passierte es dann. Bisher bin ich ja defektfrei durch meine Karriere gekommen. Jetzt trat ich beim EM Zeitfahren auf einmal ins Leere. Die Kette fiel vom Kettenblatt (one by / narrow-wide) und vermutlich durch das schnelle Lösen der Spannung „verknotete“ sie sich mit sich selbst. Ich hielt an und wollte die Kette wieder auflegen, was mir nicht gleich gelang. Der Motorrad Kommissär hinter mir hielt an, stellte sein Motorrad ab und kam mir zur Hilfe. Das dauerte alles gefühlt eine Ewigkeit. Als die Kette endlich wieder da war, wo sie hingehörte, fuhr ich weiter und versuchte dennoch so schnell und gut wie möglich zu fahren. Am Ende belege ich im EM Zeitfahren Platz 7 mit 26 Sekunden Rückstand auf Platz 3. Laut meinem Radcomputer hatte ich bei der „Kettenaktion“ eine reine Standzeit von 34 Sekunden

Da wäre sie gewesen, die internationale Medaille. In den Beinen hatte ich es auf jeden Fall. Ich habe
etwas gebraucht, bis ich die positiven Dinge aus dem Rennen erkennen konnte.

Straßenrennen

Das Straßenrennen der EM war direkt am Folgetag. Das Streckenprofil lag mir gar nicht. Ein schwerer Rundkurs mit einem knackigen Anstieg zu Beginn jeder Runde. Ich wusste, dass meine Leidensfähigkeiten gefragt waren, eine Medaille war nicht realistisch. Bereits in der ersten Runde war das Feld komplett zerteilt. Ich fand mich in der dritten Gruppe wieder und konnte in dieser das Rennen gut zu Ende fahren. Mehr als Platz 8 im EM Straßenrennen war an dem Tag nicht drin. Das war in Ordnung so. Dennoch fuhr ich mit Platz 7 im Zeitfahren und Platz 8 im Straßenrennen weiterhin ohne internationale Medaille zurück nach Nürnberg. Das war nicht ganz leicht für mich.

Deutsche Meisterschaften

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Über Pfingsten fanden dann die Deutschen Meisterschaften in Köln statt. Das Zeitfahren war am 4. Juni auf dem Terra Nova Speedway in Elsdorf. Dort bin ich auch in der Vergangenheit schon öfter am Start gestanden. Die Strecke war mir bekannt und ich mag sie genauso gern wie die Strecke in Ostende. Flach und windanfällig, das kommt mir entgegen.

Ich verarbeitete all die Enttäuschungen der vergangenen Wettkämpfe in diesem Rennen. Ich fuhr erneut einen neuen persönlichen Bestwert bei der Durchschnittsleistung. Da auch die Kette blieb, wo sie hingehörte, und auch sonst alles super lief, fuhr ich eine neue persönliche Bestzeit auf dem Kurs
und wurde mit knapp einer Minute Vorsprung erstmals Deutscher Meister im Zeitfahren!

Das war deutlich. Das tat gut. Das Rennen war gleichzeitig auch ein Europacup mit internationalen Startern. Die Europacup Wertung gewann ich ebenfalls. Nachdem ich 2017 bereits Deutscher Meister im Straßenrennen wurde, ist das jetzt mein zweiter Deutscher Meistertitel. Zum ersten Mal in meiner Lieblingsdisziplin, dem Zeitfahren.

Straßenrennen

Am Folgetag fand das Straßenrennen der Deutschen Meisterschaft in Köln Longerich statt. Auch dort konnte ich eine gute Leistung abrufen und musste mich am Ende nur Steffen Warias im Sprint geschlagen geben. Ich wurde Vizemeister und auch in der Europacup-Wertung stand ich wieder auf dem Podium. Damit holte ich mir auch den Gesamtsieg bei diesem Europacup.

Für mich war das ein gelungener Abschluss der ersten Saisonhälfte. Sie war nicht leicht, hat mich viel gelehrt und mich hier und da leiden lassen. Aber ich habe mich für die WM in Kanada qualifiziert und bin Deutscher Meister im Zeitfahren geworden. Ich möchte nicht von einer durchwachsenen Saisonhälfte sprechen, denn ich denke, als frisch gebackener Vater im nachparalympischen Jahr ist das dennoch ganz in Ordnung.

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Ausblick

Am kommenden Samstag, 25. Juni, finden in Sonthofen die Bayerischen Meisterschaften im Straßenrennen statt. Dort werde ich starten, sehe das Rennen aber eher als Vorbereitung für die kommenden Aufgaben.

Anfang Juli fahre ich mit meiner Familie in das Höhentrainingslager der Nationalmannschaft nach Livigno. Wir werden dort drei Wochen bleiben. Die Bedingungen sind aus vorherigen Trainingslagern bekannt und ich freue mich auf die Zeit dort. Im Anschluss bin ich genau eine Woche daheim, bevor ich mit der Nationalmannschaft nach Kanada fliege. Die finale Nominierung zur Weltmeisterschaft steht noch aus, allerdings habe ich die Qualifikationskriterien erfüllt.

In Kanada steht zuerst ein Weltcup in Quebec an, bevor es weiter zur Weltmeisterschaft nach Baie-Comeau geht. Ich freue mich, erneut Deutschland bei einer WM vertreten zu dürfen. Allerdings blicke ich auch mit einem weinenden Auge auf die Zeit voraus. Es ist das erste Mal, dass ich meine Familie in diesem Jahr nicht dabeihaben werde. Mitte August komme ich aus Kanada zurück, dann werde ich eine Saisonpause einlegen.

Ehrenbotschafter

An dieser Stelle möchte ich auch wieder kurz ein paar Zeilen über Nehemiah Gateway verlieren, die Organisation für welche Siw und ich die Ehrenbotschafterrolle übernommen haben. NG betreibt in Albanien auch einen Verkehrsübungsplatz. Albanien ist, laut Road Safety Report 2018, mit einer Quote von 13,4 Verkehrstoten pro 100.000 Einwohner in Europa das Land mit den im Schnitt meisten tödlich verunglückten Menschen. Deutschland zählt im Aufzeichnungszeitraum 4,1 Verkehrstote pro 100.000 Einwohner.

Die Schwächsten, wie Fußgänger, Radfahrer und Kinder, sind am stärksten gefährdet. Der Übungsplatz befindet auf dem Gelände des NG Campus in Buçimas (nahe der Stadt Pogradec). Der Platz zwischen den einzelnen Gebäuden wurde mit Verkehrskreisel, Ampelanlage, Zebrastreifen und verschiedenen Schildern versehen. Einzigartig in Albanien.

Nicht nur die Schülerinnen und Schüler sowie Studierende von Nehemia Gateway erhalten ein intensives Training, sondern auch Klassen aus öffentlichen Schulen der Region. Jedes Schuljahr nehmen etwa 600 Kinder an dem Lehrprogramm teil. Zusätzlich werden Multiplikatoren für Schulungen angeleitet. Weitere Infos zu NG findet ihr hier: www.nehemiah-gateway.org

[Text: Matthias Schindler]

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Alexander Theis

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