Individualität und Ergonomie sind für Radreisende wichtige Eigenschaften bei der Auswahl ihres zweirädrigen Begleiters. Deshalb darf die Suche nach dem optimalen Reiserad gerne etwas länger dauern.
Radhersteller haben auf die unterschiedlichen Vorstellungen der Reiseradler reagiert und bieten unterschiedliche Konzepte an.
pressedienst-fahrrad: Was sind die wichtigsten Kriterien eines Reiserades und wie unterscheidet es sich für einen Laien von einem Trekkingrad oder MTB?
Stefan Stiener: „Zuverlässigkeit ist für ein Reiserad besonders wichtig. Es braucht deshalb keine experimentelle Technik und nicht den neuesten Schnickschnack, sondern es muss im Bedarfsfall einfach und schnell zu reparieren sein. Und das weltweit. Ein gutes Reiserad zeichnet sich deshalb dadurch aus, dass man auch mal etwas weglassen kann.
Zudem muss das Fahrrad zur Anwendung und zum Fahrer passen. Man verbringt schließlich viel Zeit miteinander. Grundsätzlich ist eine hohe Rahmensteifigkeit enorm wichtig. Das sind alles Punkte, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind. Es gibt aber auch für Einsteiger sichtbare Kriterien: ein Cockpit mit unterschiedlichen Griffpositionen und die Möglichkeit zum Anbringen von Gepäck bzw. Gepäckträgern vorne und hinten.“
Aloys Hanekamp: „Das Wichtige bei einer Radreise ist doch, die Reise und die Umgebung zu 100 Prozent genießen zu können. Deshalb sollte das Reiserad so gebaut sein, dass es unter voller Last, also mit Gepäcktaschen vorne und hinten und sogar mit einem Anhänger, stabil und völlig zuverlässig rollt. Das bezieht sich sowohl auf den Rahmen als auch auf die Bremsen sowie das Fahrverhalten. Daneben sollte es komplett funktionell und robust sein. Ich verstehe ein Reiserad als das Werkzeug für den Reiseradler. Damit man sich unterwegs keine Gedanken wegen Defekten machen muss, sollte es auch möglichst service-arm sein.“
Volker Dohrmann: „Wichtige Kriterien bei der Auswahl eines Reiserades sind eine einfache Bedienung und eine lange Haltbarkeit. Dazu sollte das Fahrrad auch leicht sein. Grundlegend ist bei der Auswahl darauf zu achten, dass die Qualität der Ausstattung hochwertig ist.
Neben wartungsfreien Komponenten zählt dazu aus meiner Sicht auch eine sehr gute Beleuchtung mit mindestens 100 Lux. Insgesamt muss der Radfahrer davon überzeugt sein, dass sein Geld gut investiert ist. Da es sich um ein beratungsintensives Thema handelt, rate ich, zum Kauf in den Fachhandel zu gehen.
Das hat den Vorteil, dass man das Fahrverhalten vorm Kauf intensiv prüfen kann. Das ist wichtig, wenn es um die Frage der Sitzposition geht. Vor jeder längeren Reise sollte man sich an das Rad gewöhnen und mit ihm vertraut sein. Das sollte man sehr ernst nehmen. Der spezialisierte Händler sieht mit einem Blick, wenn das Fahrrad nicht passt und hält von einem Fehlkauf ab.“
Individuell angepasst oder von der Stange: Warum habt ihr euch für euren Weg entschieden und was sind die Vorteile?
Stiener: „Für uns steht die individuelle Anpassung im Vordergrund. Das hat einen einfachen Grund: Jeder Kunde bekommt das Fahrrad, das zu ihm passt – bei der Ausstattung und bei der Sitzposition. Was diese individuelle Ausstattung Wert ist, zeigt sich am Beispiel der Bremsen. Reiseräder werden oft nur noch mit Scheibenbremsen ausgeliefert. Dem Radfahrer wird bereits vorgeschrieben, das Rad mit Scheibenbremse zu nehmen. Doch auf langen Touren oder wenn das Rad oft verladen werden muss, können sich Felgenbremsen durchaus anbieten – auch weil sie einfacher zu reparieren sind.
Bei der Sitzposition können wir durch die individuellen Einstellmöglichkeiten das Optimum rausholen. Man wird nicht auf ein Rad gezwungen, sondern es wird einem persönlich angepasst, was gerade für lange Touren interessant ist. Dabei erfinden wir das Radfahren nicht jedesmal neu, sondern greifen auf einen bewährten Fundus von Einstellungen zurück. So können wir für jeden Fahrer eine spezifische Lösung finden.“
Hanekamp: „Beim Kauf eines Reiserades sollte die erste Frage sein: ‚Was will ich mit dem Rad machen?‘ Wir bieten deshalb drei Grundmodelle an: Der ‚Worldtraveller‘ ist ein Rad für weite Reisen mit viel Gepäck. Für leichtere oder schnellere Touren haben wir den ‚Grandtourer‘ im Programm und Fahrer, die auf zusätzliche Motorunterstützung setzen, greifen auf den ‚E-Worldtraveller‘ zurück. Alle drei Modelle gibt es jeweils als Standardmodell mit einer von uns gewählten Komplettausstattung. Das soll Reiseradeinsteiger und Fahrradfans mit etwas weniger Budget ansprechen.
Wer Wert auf eine robustere, service-ärmere Lösungen legt, muss etwas mehr Geld investieren und kann sich in unserem speziellen Signature-Programm seine Wunschkomponenten ans Rad bauen lassen. Dazu zählen Schaltungs- und Antriebsoptionen sowie freie Bremsen- und Reifenwahl.
Diese unterschiedlichen Konzepte beweisen: Ein Reiserad muss nicht unbedingt viel kosten. Wir möchten für jeden Geldbeutel und jeden Einsatzzweck ein qualitativ sehr gutes Rad anbieten.“
Dohrmann: „Unser Konzept basiert auf unterschiedlichen Reiserädern ab einem Einstiegspreis von 560 Euro bis zu unserem Premiumrad bei 3.800 Euro. Was ein Kunde als Radreise ansieht und wie viel er oder sie dafür investieren möchte, ist immer eine individuelle Entscheidung. Ob für die Wochenendreise oder die Fahrt auf der Pan Americana – wichtig ist, dass das Fahrrad passt, einen Gepäckträger hat, der Packtaschen gut aufnimmt und dass das Rad über ein zulässiges Gesamtgewicht verfügt, dass die Gepäckmitnahme erlaubt.
Das ist die Basis, auf der sich jeder Radreisende seine Grundausstattung suchen kann, etwa bei der Federgabel oder der Schaltung. Sonderanfertigungen oder Wunschgeometrien bieten wir nicht an.
Die Individualisierung bei den ergonomischen Komponenten von Lenker, Sattel oder Griffen sowie der Wunsch nach Sonderausstattungen erfolgen immer durch unsere Fachhandelspartner vor Ort. Dieser Service kann bei geringem Aufwand sogar kostenfrei sein.
Wir haben bereits darüber diskutiert, ob wir auch für unsere Reise- und Trekkingmodelle ein Custom-made-Programm anbieten, wie wir es im Rennradbereich haben. Wir sind allerdings der Meinung, dass diese individuellen Anfragen sich kaum von unseren Serienmodellen unterscheiden. Deshalb setzen wir auf Großserienfertigung, wodurch wir ein sehr gutes Preis-Leistungsverhältnis bei unseren Rädern erreichen.“
Riemen- oder Kettenantrieb, Getriebe- oder Kettenschaltung, Rennlenker oder Bar-Ends, breite oder schmale Reifen: Die Ausrüstungsmöglichkeiten scheinen enorm. Welche Ausstattung empfiehlst du einem Reiseradeinsteiger? Und was fährst du persönlich und warum?
Stiener: „Ich bin hier definitiv nicht der Maßstab, ich fahre nämlich Rennlenker und Kettenschaltung. Aber es gibt wirklich ein sehr breites Angebot an unterschiedlichen Möglichkeiten. Ich rate immer zu breiteren Reifen, da sie sowohl im Gelände als auch auf Asphalt funktionieren. Schmale Reifen bereiten auf Schotteruntergrund Probleme.
Bei der Schaltung empfehle ich Getriebeschaltungen, da sie auf unbefestigten Strecken weniger anfällig sind auf äußere Einwirkungen. Bei lang anhaltendem schlechten Wetter ist eine Kettenschaltung zudem schwieriger zu pflegen.
Einsteiger sollten mit MTB-Lenker fahren, da die Form bekannt ist und jeder damit klar kommt. Ein Rennlenker ist eher für Routiniers, die bereits Reiseraderfahrung gesammelt haben und das Fahren mit Rennlenker gewohnt sind. Für den Einsteiger rate ich deshalb: Ein MTB-Cockpit mit ergonomischen Griffen und Bar-Ends, eine Getriebeschaltung und breite Reifen.“
Hanekamp: „Die am häufigsten gewählte Antriebsversion in unserem Signature-Programm ist eine Getriebenabe von Rohloff in Verbindung mit einem ‚CDX‘-Carbonriemen von Gates. Diese Kombination hat sich über die Jahre bewährt. Ihr großer Vorteil ist die Unterhaltsfreundlichkeit. Riemen haben eine Lebensdauer bis zu 30.000 Kilometern und brauchen kaum Wartung – für Reiseradfahrer wichtige Argumente. Deshalb werden geschätzt rund 98 Prozent der Getriebenabenräder aus der Signature-Serie mit Riemen kombiniert, was beweist: Der Riemenantrieb hat sich absolut etabliert.
Unser Programm gibt jedoch auch Aufschluss auf andere Entwicklungen: Scheibenbremsen werden zum Beispiel auch bei Reiseradlern immer beliebter. Das Verhältnis zwischen Scheiben- und Felgenbremsen liegt mittlerweile bei 50/50. Ich bin mir sicher, dass sich das in den nächsten Jahren noch weiter Richtung Scheibenbremsen drehen wird. Die Qualität der Bremsen ist einfach besser geworden und die Akzeptanz sowie Verbreitung nimmt weltweit zu.
Bei den Reifen geht der Trend ganz klar in Richtung breiter. Bei 28 Zoll sind 50 Millimeter Breite Standard und bei 27,5-Zoll-Laufrädern sogar 62 Millimeter. Sie geben einfach mehr Kontrolle und Komfort – ohne mehr Rollwiderstand zu haben.
Persönlich bin ich eher sportlich unterwegs und fahre momentan ein Grandtourer S. Wenn ich mir jedoch eine längere Radauszeit gönnen würde, wäre meine Wahl ein Worldtraveller mit mit Getriebeschaltung, Riemen, Scheibenbremse und einer Reifenbreite von 50 Millimetern in 28 Zoll.“
Dohrmann: „Der Riemenantrieb hat Vorteile auf längeren Strecken, da er wartungsarm läuft und mehr Kilometer schafft. Gleiches gilt für eine Getriebeschaltung.
Die Lenkerwahl ist typ- und streckenbedingt. Bei meiner Tour durch Neuseeland habe ich mir einen Rennlenker gewünscht, in Australien habe ich ihn hingegen nicht vermisst. Bar-Ends bieten nicht die Variabilität, die ein Rennlenker bietet. Ich rate aber dennoch zu MTB-Lenkern, weil man damit gewohnter fahren kann.
Persönlich tendiere ich zu schmalen Reifen. Bei unseren Reiserädern sind 42 Millimeter Breite in Serie, die Modelle bieten jedoch Platz bis 47 Millimeter. Ich habe es aber nicht bereut, dass ich bei meinem aktuellen umgebauten MTB-Hardtail mit 60 Millimeter breiten Reifen fahren kann. Gerade wenn es auf Abenteuertour geht, bieten breite Reifen mehr Komfort und Pannensicherheit. I
Ich fahre aktuell ein umgebautes MTB-Hardtail mit Beleuchtung und Gepäckträger und einer leicht aufrechten Sitzposition. Allerdings überlege ich, ob ich mir für sportlichere Touren noch ein Gravel-Bike anschaffe. A
llein das zeigt, dass der Begriff Geländerad ein breites Angebot beinhaltet. Erfahrene Reiseradfahrer halten oft auch an einem Rahmen lange fest und bauen je nach Tour ihre individuellen Komponenten an. Auf meinen Touren durch Australien oder Südamerika habe ich so einiges an unterschiedlichen Bauarten gesehen.“
Die Elektrifizierung von Fahrrädern macht auch vor Reiserädern nicht Halt. Welche Rolle werden in Zukunft E-Reiseräder spielen und passt ihr deshalb euer Reiseradkonzept verstärkt an E-Bikes an?
Stiener: „Der E-Antrieb ist auch bei Reiserädern ein immer wichtigerer Aspekt. Dabei können wir auf unser bewährtes Konzept zurückgreifen und bieten eine breite Auswahl unterschiedlicher Aufbauten an. Dazu haben wir Pedelecs mit starken Nabenmotoren und Pinion-Getriebeschaltung oder mit Mittelmotor im Angebot. Somit ermöglichen wir Konzepte je nach Wegen und Tourengestaltung.
Das Potenzial für E-Reiseräder ist da, jetzt müssen aber in erster Linie die Touristenregionen nachziehen und Strecken abseits der Flussradwege attraktiv machen. Mit E-Reiserädern können einfach neue, reizvolle Wege mit unterschiedlichen Topografien erkundet werden. Ich habe ein bisschen das Gefühl, dass wir als kleiner Hersteller der Realität voraus sind.“
Hanekamp: „Schon seit einigen Jahren haben wir die Nachfrage nach einem E-Reiserad. Diese Saison haben wir zum ersten Mal eins im Angebot. Die Rahmen sind auf Basis des Worldtraveller entwickelt und extra stabil gebaut. Sie bieten die Anbaumöglichkeit für Gepäckträger vorne und hinten, Getränkehalter, breite Reifen, zwei Akkus usw.. Letzteres ist in diesem Bereich besonders gefragt, da man so seine Reichweite erhöhen kann.
Grundsätzlich ist es immer akzeptabler, ein E-Bike zu fahren und die Zielgruppe wird stetig jünger. Die Akzeptanz für die E-Mobilität wächst jetzt auch im Trekking-Bereich. Daher glauben wir, dass dieses Segment zukünftig eine große Rolle spielen wird.“
Dohrmann: „Das ist für uns noch kein Thema. Für mich ist das Konzept noch nicht rund. In Deutschland fahren zwar viele Pedelecs, aber in anderen Ländern ist das Thema noch nicht angekommen. Somit ist meist noch keine passende Infrastruktur an Lademöglichkeiten vorhanden.
E-Bikes sollen eigentlich die Reichweite erhöhen, aber im Grunde muss man seine Tour genauer planen, damit man nicht mit leeren Akkus dasteht. Das ist aber zum Beispiel in Australien echt schwierig, wenn über 150 Kilometer einfach keine Ortschaft kommt und die Akkureichweite bei 80 Kilometern liegt. Bleibt nur die Lösung: Ersatzakku oder Solarpanele zum Aufladen.
Das Pedelec ist für mich deshalb ein Wochenendrad für kürzere Touren, ein richtiges Reiserad ist es noch nicht.“
Im Kasten: Die Frage des Rahmenmaterials
Eine Frage, die jeden Reiseradfahrer umtreibt, lautet: Welches Rahmenmaterial sollte mein Rad haben? Stahl galt aufgrund der schnellen und einfachen Reparaturmöglichkeiten lange Zeit als die richtige Wahl.
„Stahl wird manchmal noch gefragt, aber dann meist aus nostalgischen Gründen. Das Material hat aber keine technischen Vorteile gegenüber Aluminium. Wir bieten sogar eine lebenslange Garantie auf unsere Alu-Rahmen, was für sich spricht“, sagt Aloys Hanekamp.
Die Reiseradprofis sprechen sich deshalb unisono für Aluminium als Rahmenmaterial aus. „Moderne Aluminiumrahmen müssen nicht mehr repariert werden, sondern sind stabil genug, um eine Tour problemlos auszuhalten. Haltbarkeit und Steifigkeit bekommen ich mit Aluminium super unter einen Hut“, erklärt auch Stefan Stiener.
Volker Dohrmann ergänzt: „Weltweit gibt es bereits ein großes Netzwerk an Fahrradhändlern, die vieles reparieren können. Und wenn alle Stricke reißen, ist bei der heutigen Logistik binnen 48 Stunden für Ersatz gesorgt. Da muss man nicht mehr schweißen.“
Stahl empfehle Stiener nur noch Radreisenden, die über längere Zeit unterwegs sind und deren Tour Expeditionscharakter hat. Von Carbon sollte man hingegen lieber die Finger lassen, da das Material leicht beschädigt werden kann, z. B. beim Umladen oder Verstauen.
Für lange Haltbarkeit, selbst über Generationen hinweg, steht Titan. Aufgrund des höheren Preises bleibt das Material allerdings ein Nischenprodukt.
In der Nische bewegt sich schließlich auch Bambus als Rahmenmaterial. „Die Nachfrage von Reiseradlern steigt jedoch merklich an“, wie Maximilian Schay vom Anbieter My Boo feststellt. „Bambus ist robust und verfügt über natürliche Dämpfungseigenschaften, was es aus unserer Sicht ideal für den Rahmen eines Reiserads macht.“
[Text & Fotos: PD-F]
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