[at] André Schumacher war mit der Familie im Urlaub – und hat dabei 3.517 Kilometer zurückgelegt. Mit dem Lastenfahrrad. Im Interview gibt er Einblicke in das „wie“ und „warum“.
André Schumacher glaubt daran, wie er sagt, „dass ganz normale Menschen ganz besonderes tun können und dass das, was man in die Welt hinausgibt, auch zu einem zurückkommt.“
Nach dem Fall der Mauer vor 30 Jahren machte er sich auf den Weg – nach Norwegen, Patagonien und Bolivien. Er reiste nach Afrika und Asien und in 80 Tagen um die Welt, hängte seinen Beruf als Architekt an den Nagel und folgte seiner Berufung „Reisen“ auch dann noch, als er mit Freundin Jenni eine Familie gegründet hatte.
Als ihr Sohn Unai 18 Monate alt war, fuhren sie mit dem Lastenrad und 10 Kilo Windeln im Gepäck von Wismar an der Ostseeküste nach Pamplona in Spanien. Über ihre Reise hat André nun ein Buch geschrieben: „Eine Familie, zwei Räder und das Abenteuer unseres Lebens“.
Jede Familie, der ich von dieser Reise erzählte, stellte mir Fragen – und meist waren es die gleichen. Deshalb habe ich diese jetzt einfach mal an André weitergegeben …
Alexander Theis: André, ihr wart mit eurem knapp ein Jahr alten Sohn mit dem Lastenrad auf Reisen. Warum tut man das?
André Schumacher: Die Idee war es, unserem Sohn Unai ein großes Geschenk zu machen. Ich selbst habe das Reisen mittlerweile in meinen Genen verankert. Ein Jahr nach dem Mauerfall bin ich mit meinem Schulfreund Burkhard zum Nordkap aufgebrochen. Wir waren sechs Wochen alleine in Norwegen unterwegs, ohne Handy, ohne E-Mail, ohne Goretex. Es wundert mich heute noch, dass unsere Eltern das damals zugelassen haben! Nach meinem Architekturstudium radelte ich zweieinhalb Jahre von Patagonien aus nach Norden, immer Richtung Alaska. Daraus entstand meine erste Dia-Show “Von Pol zu Pol“.
Die Reise hinterließ ihre Spuren, und ich kam auf den Geschmack von Freiheit und Abenteuer. Ich habe Europa durchwandert, bin in 80 Tagen um die Welt gereist und war ein Vierteljahr auf Fotoreportage in der Antarktis. Bei meiner Durchschreitung der Kanarischen Inseln habe ich dann meine Freundin kennengelernt, und als unser gemeinsamer Sohn zur Welt kam, war es mit dem Reisen erst einmal vorbei.
Ein Jahr nach der Geburt von Unai brach das Reisefieber wieder durch. Unser Plan: von unserer neuen Heimat, dem Kunterbunthof in Mecklenburg-Vorpommern, bis in Jennis Heimat nach Spanien.
Natürlich stellte sich dabei die Frage nach dem Fortbewegungsmittel. Eine Reise mit dem Auto oder Wohnwagen kam für uns nicht in Betracht. Lange Zeit liebäugelten wir mit einer langen Rucksackwanderung, bei der Unai oben irgendwie aus dem Rucksack geschaut hätte. Zwischendurch hatten wir sogar die Idee, Unai in einer Schubkarre durch Europa zu schieben. Doch am Ende entschieden wir uns für das Lastenfahrrad. Halb Sportrad, halb Kinderwagen – das perfekte Verkehrsmittel! Da also haben wir ihn reingesetzt und sind los …
Ganz gemächlich, mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 1,26 Kilometer pro Stunde, gondelten wir ein halbes Jahr lang mit ihm durch Europa, wollten ihm zeigen, wie schön das Unterwegssein ist, wie bunt und vielgestaltig die Welt. Das hat geklappt. Er sprach fremde Menschen an und ging in neue Kulturen hinein, als wäre es das normalste auf der Welt. Am Ende der Reise, als er zwei Jahre alt war, sprach er bruchstückhaft sechs Sprachen.
Alex: Wo habt ihr unterwegs geschlafen?
André: Der ursprüngliche Plan war es, im Zelt zu schlafen, denn wir wollten möglichst unabhängig sein. Unterwegs haben wir aber bald gemerkt, dass man – zumal mit dem Baby – die ganze Zeit über eingeladen wird, vor allem in Südeuropa. Wenn wir zum Beispiel auf einem Marktplatz in Oberitalien standen und auf der Suche nach einem Schlafplatz waren, dann kamen die Menschen auf uns zu und zerrten uns regelrecht in ihre Wohnzimmer. So landeten wir mal im Holzstall, mal im Weinkeller und ein anderes mal in einem Luxushotel.
Die verbleibenden Nächte haben wir gezeltet, doch je weiter wir nach Süden kamen, je wärmer es wurde, desto überflüssiger wurde das Zelt auch hier. Wir haben die Isomatten einfach am Straßenrand in das Gras gelegt und unter den Sternen geschlafen, und das waren die schönsten Nächte! Wenn die Vögel dich am Morgen wecken, die Sonne dich streichelt und des nachts die Milchstraße über dir glitzert. Unai lag da, schaute nach oben, drum herum vielleicht noch eine Spinne und ein paar Käfer, und schlief besser als in jedem Hotelzimmer!
Alex: Viele Kinder sind beim Essen ja wählerisch. Wie habt ihr Unai an fremdes Essen gewöhnt?
André: Das war nie ein Problem. Vielleicht lag es daran, dass Unai sehr klein war und noch keine Vorlieben ausgeprägt hatte?
Vor ein paar Tagen ist er fünf geworden, und die Sache ist mittlerweile viel komplizierter als damals. Jetzt sagt er: „Ich will Nudeln und nichts anderes, oder das und dies und jenes.“ Jedes Abendbrot eine kleinen Debatte. Früher war das easy. Es gab, was die Satteltaschen hergaben, und das meist einfach und lecker und wenn möglich irgendwie “Bio”.
Wir hatten zum Frühstück oft Müsli, Haferflocken und Trockenfrüchte aus dem Supermarkt, die wir dann mit Milch oder Wasser aufgossen. Tagsüber haben wir uns was am Wegesrand geholt: in Italien eine Pizza oder Knödel in Südtirol. Und abends kochten wir meist groß und selbst: abwechselnd Nudeln, Reis oder Stampfkartoffeln mit entsprechenden Beilagen – also ganz normales Reiseessen.
Für die Eltern in ähnlichen Umständen sei erwähnt, dass Unai auf der Reise noch gestillt wurde. Was für Jenni durchaus eine Herausforderung darstellte, bot auch Vorteile. Denn Unai hatte eine Grundsicherheit in der Ernährung, eine Grundkost, die immer zur Verfügung stand.
Alex: Reisen mit Kindern bedeutet ja meist auch viel Gepäck. Wie viel hattet ihr dabei?
André: Wir hatten eine Menge Gepäck dabei! Mein Lastenrad war so schwer, dass ich es am Ende nicht mehr heben konnte. Das Rad selbst wog etwa 30 Kilo, dazu kam Unai mit etwa 10 kg.
Ich hatte eine Lenkertasche für meine Fotoausrüstung. Darin: zwei Kameras, verschiedene Objektive, Filter, Akkus, eine Action-Cam. Das Stativ hing an Unais Sitzschale.
Hinten am Fahrrad hatte ich zwei große Satteltaschen und darauf zwei Packsäcke. In einer der Satteltaschen befand sich meine Kleidung, in der anderen weitere Fotoausrüstung: ein Laptop, Festplatten. In den darauf festgezurrten Säcken waren Zelt, Isomatte und Schlafsack wasserdicht verpackt. Dazu noch mehrere Wasserflaschen und die Verpflegung. Alles in allem bewegte ich sicher 70 kg.
Jenni war mit einem klassisch bepackten Trekkingfahrrad unterwegs. Also vorne zwei Lowrider, hinten zwei Packtaschen und oben drauf noch ein großer Packsack. Eine der großen Taschen war für ihre, die andere für Unai’s Sachen. Vorn in den beiden Lowridern hatten wird Verpflegung, Kocher, Töpfe und die Gaskartuschen untergebracht. In der Lenkertasche befanden sich die Sachen, die man ständig braucht: das Telefon, Landkarten, Kompass, Geld.
Am Anfang einer solchen Reise besteht die Herausforderung stets darin, tatsächlich auch das zu finden, was man sucht, und nicht erst einmal tausend andere Dinge rauszukramen, die man eigentlich gar nicht braucht. Doch nach ein paar Tagen Umpacken, Verschieben und Optimieren geht das schon recht fix. Die Satteltaschen sind dann wie die eigene Wohnung, in der man sich geschmeidig bewegt.
Ein bisschen Ordnungswille und Disziplin sind allerdings empfehlenswert. Bei einer Reise von einem halben Jahr wird man nämlich bekloppt, wenn man zum Beispiel ständig einen Socken in acht verschiedenen Satteltaschen suchen muss. Und das auch dann, wenn es regnet oder scheint.
Alex: Zum Reisegepäck zählt ja auch Spielzeug, viele Eltern können ein Lied davon singen. Wie viel hatte Unai dabei?
André: Unai hatte sein Reich vorne im Kasten des Lastenrads, und dieser ist für einen anderthalbjährigen großzügig geschnitten. Es gab eine Sitzbank und an den Seiten zusätzliche Taschen, in die eine Menge reinpasste.
Was hatten wir dabei? Kreide, zum Beispiel. Die Sitzschale war innen schwarz, und Unai konnte während der Fahrt prima darin malen. Außerdem Jonglierbälle, die furchtbar gern über Bord geworfen wurden. Papa und Mama mussten dann anhalten und sie am Straßenrand suchen. Mal in einem Rinnsal, mal an einer senkrechten Felswand.
Dazu kam eine ganze Sammlung kleiner Plastiksaurier, zwei Kuscheltiere, drei oder vier Bilderbücher. Unai hat sich die Sachen während der Fahrt einfach genommen, damit gespielt, Bücher durchblättert. Der Kasten war sein Kinderzimmer!
Mehr brauchten wir eigentlich nicht. Wozu auch? Es gibt ja immer etwas zu entdecken. Man spürt den Wind, die Sonne auf der Haut, klassifiziert die Bäume und nimmt die Düfte der Pflanzen wahr. Nach der Hälfte der Strecke kannte Unai alle Beeren am Wegesrand. Wenn er während der Fahrt eine erspähte, hörten wir ihn rufen: „Brombeeren, Brombeeren!“. Dann wurde gehalten und gepflückt
Aus heutiger Sicht würde ich sagen: ein paar kleine Bälle, mit denen man rumspielen kann, zwei Dinosaurier oder wahlweise Einhörner, dazu noch zwei, drei Bücher – das war’s für ein halbes Jahr.
Alex: Zwar wart ihr nicht mit einem Pedelec unterwegs, aber Du hast vorhin eure elektronischen Geräte aufgezählt. Woher kam der Strom für Handy und Co?
André: Wir hatten anfangs überlegt, ob wir Solarzellen mitnehmen, wollten uns dann aber nicht noch mehr belasten. Wir haben einfach darauf gehofft, dass wir alle paar Tage zumindest ein Café finden, in dem es eine Steckdose gibt. Wir sind ja in Europa, also kein Problem.
Hilfreich ist es natürlich mehrere Kamera-Akkus mit dabei zu haben, um im Notfall auch mal eine stromlose Woche überbrücken zu können. Und statt eines Navis oder GPS bevorzugen wir ohnehin Landkarten aus Papier.
Alex: Was habt ihr gemacht, wenn Unai quengelte und nicht stillsitzen wollte?
André: Unai hat ganz selten gequengelt. Wahrscheinlich hatten wir auch Glück beim Abpassen dieser reisefreundlichen Lebensphase. Er war ja anderthalb, als wir losfuhren. Er konnte einerseits schon aufrecht sitzen, sich festhalten, die Welt bewusst wahrnehmen. Andererseits aber noch nicht so aktiv werden, wie er es sich wohl selbst wünschte. Rückblickend würde ich sagen: Es war die perfekte Zeit, um von den Eltern durch Europa kutschiert zu werden.
Gegen Ende der Reise beispielsweise, er wurde gerade zwei, merkten wir, dass das lange Stillsitzen ihm zunehmend schwerer fiel: Er wollte nun selbst laufen, entdecken, die Begrenzung des Lastenrads verlassen und selbst die Welt erobern.
In diesem Sinne war der kleinste in unserem Team auch stets der enthusiastischste. Wenn wir mal einen Pausentag hatten, dann ist Unai zum Fahrrad gelaufen und krakeelte: „Weiter, weiter!“
Geschlafen hat er in der Kiste des Lastenrads übrigens auch sehr gut. Das kennen die meisten Eltern sicherlich: Wenn es ein bisschen rumpelt und das Auto wackelt, dann schlafen die Kinder wie Engel. Bei unserem Cargobike war das nicht anders, und für uns waren diese Stunden wie Geschenke, in denen wir ordentlich Strecke machen konnten.
Alex: Eine der meist gestellten Fragen war „Wie kann das Kind seinem natürlichen Spieltrieb und Bewegungsdrang nachgehen, wenn es den ganzen Tag in einem Kindersitz sitzt?“
André: Für ein Kind von anderthalb Jahren ist so ein Lastenfahrrad riesig. Auch saß Unai nicht in eine Sitzschale gepresst, sondern auf einer breiten Lederbank inmitten „seines“ Kastens. Dort konnte er malen, lesen, jonglieren, Gräser abpflücken. Wenn wir standen, stellte er sich auf, hüpfte, kletterte über Bord und wieder rein und auch sonst überall am Rad herum.
Wichtiger aber ist: Wir sind keine Sportler, und wir suchen auch nicht den Kick hoher Geschwindigkeit und großer Distanzen. Es gab Tage, an denen haben wir 10 Kilometer geschafft, und an anderen 20. Nur langsam, im Laufe der Reise, haben wir uns gesteigert. Die längsten Etappen schlagen mit 50, 60 Kilometern zu Buche.
Wie sieht also ein normaler Tag aus? Er beginnt mit drei Stunden Zeltzusammenbauen. Die Sachen der Nacht müssen gelüftet und in den Satteltaschen verstaut werden. Waschen, frühstücken, aufsitzen. Dann sind wir zwei Stunden geradelt, unterbrochen von Brombeersammel- und Badepausen, die ihrerseits nicht selten direkt in die Mittagspause übergehen. Am Nachmittag heißt es wieder: Radfahren. Aber nur, bis sich ein schöner Zeltplatz am Wegesrand abzeichnet. Hier wird dann gespielt, getobt, ein Lagerfeuer entzündet und gekocht.
Anstatt also den Rhythmus der Erwachsen auf das Kind zu übertragen, hat vielmehr Unai den unsrigen geprägt. Und das war gut so! Wir kamen zwar nicht schnell von A nach B, aber was will man dort auch? Wir hatten ja Zeit. Und die Wunder entfalten sich ohnehin nicht am Ziel, sondern am Wegesrand.
Seither ist das für mich die Essenz des Reisens: Offen in eine Situation hineinzugehen und nicht zu wissen wann und wie man wieder rauskommt. Ganz so wie ein leeres Gefäß, das gefüllt werden möchte, jeden Tag auf’s neue, von den kleinen und großen Wundern entlang des Weges. Und wer könnte uns das besser vormachen, als ein kleines Kind?
Alex: André, vielen Dank für deine Zeit!
Von seinen Reiseabenteuern, von fremden Kulturen und fernen Landschaften erzählt André bei Kerzenschein und Rotwein live und vor großer Leinwand. Alle Tourdaten findet ihr hier: www.andre-schumacher.de/termine
Mit seiner Freundin und Helfern aus aller Welt baut er einen alten Bauernhof zu einem (Urlaubs-) Ort der Begegnung und Kultur aus. Der „Kunterbunthof“ wurde 2018 zu „1 der 10 schönsten Orte zum Aussteigen in Europa“ und 2019 zum „Top-Ferienhof in Mecklenburg-Vorpommern“ gewählt: www.kunterbunthof.de
Unter dem Motto „Rucksack und Sterneküche“ führt André kleine, handverlesene Gruppen zu seinen ganz besonderen Lieblingsplätzen: an Orte, von denen nur wenige wissen, auf Wegen, die nur wenige gehen – und öffnet dabei Türen, die für die meisten Menschen verschlossen bleiben: www.andre-schumacher.de/reisen
Bibliographische Daten zum Buch:
Titel: „Eine Familie, zwei Räder und das Abenteuer unseres Lebens“
Autor: André Schumacher
Seiten: 192
ISBN: 978-3834229991
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Das Buch ist in jeder Buchhandlung erhältlich. Gerne könnt ihr es auch über Andrés Webseite bestellen. Es wird dann mit Liebe verpackt und kommt rechtzeitig vor Weihnachten direkt zu euch nach Hause – auf Wunsch handsigniert und mit persönlicher Widmung: www.andre-schumacher.de/buch
[Fotos: André Schumacher]
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