Veraltetes Mobilitätsverständnis gefährdet Klimaziele!
Der von Bundeskanzler Olaf Scholz einberufene „Mobilitätsgipfel“ ist aus Sicht mehrerer Fahrrad- und Verkehrsverbände ein Beleg dafür, dass die Verkehrswende noch nicht im Kanzleramt angekommen ist.
Dass es bei dem Treffen zwar laut Ankündigung um die Transformation der Mobilitätswirtschaft gehen soll, aber fast ausschließlich Vertreterinnen und Vertreter der Automobilbranche eingeladen sind, kritisieren die Allianz pro Schiene, der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC), der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) und Zukunft Fahrrad.
Dies steht aus Sicht der Verbände für ein völlig veraltetes Mobilitätsverständnis. Sie fordern von Bundeskanzler Olaf Scholz, die Verkehrswende als Ganzes anzugehen und zur Chefsache zu machen.
ADFC
Zu dem Gipfel unter dem Titel „1. Spitzengespräch der Strategieplattform Transformation der Automobil- und Mobilitätswirtschaft“ sind vor allem Vertreterinnen und Vertreter von Autoherstellern und Zulieferern eingeladen.
Die Bundesvorsitzende des ADFC, Rebecca Peters, sagt: „Die Mär von der Auto-Abhängigkeit zieht nicht mehr. Die Menschen sind längst bereit, für kürzere Strecken das Auto stehen zu lassen und das Rad zu nehmen. Das Problem ist nur: es gibt nicht genügend Radwege in Deutschland. Dabei kann der Ausbau der Radwegenetze ganz schnell gehen, wenn die rechtlichen Rahmenbedingungen stimmen. Der Bund muss endlich das Straßenverkehrsrecht so reformieren, dass Kommunen schnell Radwege bauen können. Der Bundeskanzler muss das anschieben, denn Minister Wissing will eher den Autobahnausbau als den Radwegeausbau beschleunigen.“
Allianz pro Schiene
Der Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, Dirk Flege, sagte am Montag: „Was früher einmal Autogipfel genannt wurde, hat jetzt ein neues Label bekommen – die Inhalte sind aber die alten. Das Kanzleramt betreibt hier Etikettenschwindel und beweist, dass es die Transformation der Mobilitätswirtschaft nicht im Großen und Ganzen denkt, sondern Mobilität mit E-Auto gleichsetzt. Die Verkehrswende ist aber mehr als eine Antriebswende beim Auto. Der große Fehler der selbsternannten Aufbruch-Regierung ist es, dass sie verkehrspolitisch genauso weitermacht wie ihre Vorgänger-Regierungen: Jedes Verkehrsmittel wird isoliert betrachtet, es wird nicht das große Ganze in den Blick genommen. Das ist ein Beleg für eine völlig falsch verstandene Verkehrswende.“
Selbstversuch: Ein Tag mit dem Lidl-Bike in Berlin
Burkhard Stork, Geschäftsführer des Zweirad-Industrie-Verbands (ZIV): „E-Autos und sinkende Autonutzung werden zu weniger Arbeitsplätzen in der Automobilindustrie führen. Studien zeigen aber schon lange, dass es in der modernen Mobilität künftig mehr Arbeitsplätze als bisher geben wird. Ein Baustein ist die Fahrradwirtschaft. Allein die Läden und Werkstätten melden aktuell einen Bedarf von 15.000 Mitarbeitenden, hinzu kommen Herstellung von Fahrrädern und die massiv wachsenden Dienstleitungsbereiche. Aber wenn der Kanzler nur mit den Autokonzernen redet, werden diese Möglichkeiten nicht vorkommen!“
Wasilis von Rauch, Geschäftsführer Zukunft Fahrrad: „Der Verkehrssektor steht wegen seiner gerissenen CO2-Einsparziele unter Druck. Drängender kann Handlungsbedarf nicht sein. Fahrradförderung wirkt schnell und ist kosteneffizient. Es ist Pflichtprogramm, jetzt alles aus dem Fahrrad rauszuholen. Klimaschutz ohne Fahrrad und E-Bike ist wie Schach ohne Dame. Mehr als die Hälfte aller Alltagswege lassen sich mit dem Rad machen, das Einsparpotenzial ist enorm. Wir können uns die einseitige fiskalische, wirtschafts- und verkehrspolitische Fokussierung auf das Auto nicht mehr leisten. Ohne uns gibt es keine Verkehrswende.“
Die vier Verbände forderten Bundeskanzler Olaf Scholz dazu auf, angesichts der dramatisch verfehlten Klimaziele im Verkehrssektor die Verkehrswende zur Chefsache zu machen.
Über die Verbände:
Die Allianz pro Schiene ist eine gemeinnützige Interessenorganisation zur Förderung und Verbesserung des Schienenverkehrs. Der Zusammenschluss aus Zivilgesellschaft und Bahnbranche vereint mehr als 200 Unternehmen und Verbände mit insgesamt mehr als 2,5 Millionen Einzelmitgliedern. In Deutschlands unkonventionellstem Verkehrsbündnis sind Umweltverbände und Verkehrsunternehmen organisiert, Gewerkschaften und Finanzdienstleister, Hochschulen und Fahrzeughersteller sowie Verbraucherschutzorganisationen. Die Allianz pro Schiene wurde im Jahr 2000 gegründet und hat ihren Sitz in Berlin. Mehr Informationen unter www.allianz-pro-schiene.de
Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club e.V. (ADFC) ist mit über 220.000 Mitgliedern die größte Interessenvertretung der Radfahrerinnen und Radfahrer in Deutschland und weltweit. Er berät in allen Fragen rund ums Fahrrad: Recht, Technik und Tourismus. Politisch engagiert sich der ADFC auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene für die konsequente Förderung des Radverkehrs. Mehr Informationen auf www.adfc.de.
Der Zweirad-Industrie-Verband e.V. (ZIV) ist die nationale Interessenvertretung der deutschen und internationalen Fahrradindustrie. 90 Prozent der 2021 in Deutschland produzierten Fahrräder und E-Bikes stammen von Mitgliedsunternehmen des ZIV. Dazu gehören Hersteller und Importeure von Fahrrädern, E-Bikes, Fahrradkomponenten und Zubehör. Als Branchenverband vertritt der ZIV die Interessen von rund 100 Mitgliedsunternehmen gegenüber den Gesetzgebern in der EU und in Deutschland, der Regierung, Behörden, Medien, Institutionen und Organisationen. Mehr Informationen unter www.ziv-zweirad.de
Zukunft Fahrrad ist ein Zusammenschluss dynamischer und innovativer Unternehmen aller Bereiche der Fahrradwirtschaft: Dienstleister, Hersteller, Start-ups der Digitalisierung, Händler und Zulieferer. Der Schwerpunkt liegt im Bereich der Dienstleistungen. Als neue und etablierte Unternehmen in einem stark wachsenden und sich stetig verändernden Markt haben alle ein gemeinsames Ziel: die nachhaltige Mobilitätswende. Mehr Informationen unter www.zukunft-fahrrad.org
[Text: Allianz pro Schiene, ADFC, ZIV, Zukunft Fahrrad, Foto: VeloStrom]
Kommentar:
Ich verstehe die Kritik der Verbände am „Mobilitätsgipfel“. Allerdings geht es nach meinen Informationen bei den Gesprächen darum, wie man mehr Elektroautos auf die Straße bringt, die dazu nötige Ladestruktur schafft und die Lieferkettenproblematik löst. Offenbar wird unter „Transformation der Mobilitätswirtschaft“ nur der Wandel weg vom Verbrenner hin zum E-Antrieb beim Auto verstanden. Insofern hätte das Treffen den Namen „Autogipfel“ behalten sollen.
Nach Angaben des ZIV fehlen 15.000 Mitarbeiter in Fahrradläden und -Werkstätten. Das entspricht in etwa der Anzahl der Mitarbeiter des Ford-Werkes in Köln. Dieser Vergleich zeigt meiner Meinung nach deutlich die große Bedeutung der Automobilwirtschaft für Deutschland – und erklärt vielleicht ein Stück weit, warum keiner der Verbände eingeladen wurde. Es ist ein wenig wie David gegen Goliath: Bei allem Aufwind, den das Fahrrad, vor allem durch das E-Bike, in den letzten Jahren erfahren hat – die Fahrradwirtschaft ist in Deutschland leider noch weit davon entfernt, eine ähnliche Bedeutung für die Wirtschaft zu haben, wie dies bei der Auto-Industrie der Fall ist. Das wird noch lange Zeit dauern – Zeit, die die Menschheit angesichts des drohenden Klimawandels nicht hat!
Doch ist das ein Grund, klein beizugeben? Selbstverständlich nicht! Es ist unter anderem die Aufgabe von Allianz pro Schiene, ADFC, ZIV und Zukunft Fahrrad den Finger in die Wunde zu legen, auf die Diskrepanzen bei der Förderung der Fahrradmobilität hinzuweisen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Möglichkeiten zu richten, die Fahrrad und E-Bike heute schon bieten. Haben wir mehr Radfahrende, werden die Defizite bei der Fahrradinfrastruktur deutlicher wahrgenommen und die Stimmen „pro Fahrrad“ werden lauter, gegebene Zusagen auch endlich einzuhalten. Damit aus dem nächsten „Autogipfel“ auch wirklich ein Mobilitätsgipfel wird.
Alexander Theis
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