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Herzlichen Glückwunsch! Matthias Schindler ist Vizeweltmeister!

Lesezeit etwa 9 Minuten

Paracycler Matthias Schindler hat bei der Weltmeisterschaft in Portugal den Vize-Weltmeistertitel im Zeitfahren errungen!

Nach einer langen, wettkampflosen Zeit und danke hartem, ausdauernden Training hat der sympathische Nürnberger auf dem dem „Autodromo Do Estoril“ triumphiert. Aber lassen wir ihn einfach selbst zu Wort kommen:

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Matthias Schindler:

„Am Sonntag den 06.06.2021 bin ich von München aus nach Lissabon / Portugal geflogen. Der Transfer zum Flughafen München, der Flug selbst sowie der Transfer vom Flughafen Lissabon zum Team-Hotel in Portugal haben einwandfrei funktioniert. Die Reise war vom Deutschen Behindertensportverband super organisiert.

Unser Team-Hotel war nur 4 km von der Rennstrecke, dem „Autodromo Do Estoril“, entfernt, wodurch wir Sportler in der Lage waren, selbständig mit unseren Fahrrädern zum Training oder den Rennen zu fahren. Die vom Veranstalter vorgeschriebenen PCR Tests konnten wir ebenfalls selbständig an der Rennstrecke durchführen.

Am Montag und Dienstag war offizielles Training auf dem WM-Kurs und ich konnte erste Eindrücke von der Strecke sammeln. Es war die ersten Tage extrem windig, mit teils sehr gefährlichen Seitenwinden und unberechenbaren Böen. Im Team war diesbezüglich eine gewisse Anspannung zu spüren und auch ich fand die Bedingungen auf der Strecke nicht ungefährlich.

Am Mittwoch den 09.06. bin ich dann die Vorbelastung mit komplettem Wettkampfmaterial gefahren. Ich habe mich fit und gut vorbereitet gefühlt, kannte die Rennstrecke von den Runden die ich im Autodromo Do Estoril bereits an den Vortagen gefahren war und spürte eine positive Anspannung. Am Donnerstag den 10.06. um 16:01 Uhr startete ich dann im Zeitfahren der Weltmeisterschaft. Es galt 4 Runden auf dem anspruchsvollen Kurs, mit immer noch sehr gefährlichen Windböen, schnellstmöglich zu bewältigen. Von Beginn an hatte ich ein gutes Gefühl auf meinem Rad. Im Vorfeld hatte ich den Franzosen Florian Bouziani als stärksten Konkurrenten ausgemacht, da er mich beim Weltcupzeitfahren in Ostende im Mai deutlich geschlagen hatte. Ich habe mir von meinem Team auf der Hälfte jeder Runde meinen Abstand auf Florian ansagen lassen.

Nach einer halben Runde war die Ansage vom Team „+12“, ich lag also 12 Sekunden hinter dem Franzosen. Konzentriert fuhr ich weiter und wollte mich dadurch nicht verunsichern lassen. Bei einer Streckenlänge von 33,6 Kilometern und einer geschätzten Renndauer von 45 – 50 Minuten wollte ich auf gar keinen Fall zu Beginn überziehen.

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Ich war in der Lage eine richtig gute zweite Runde zu fahren. Nach 1,5 Runden war mein Rückstand auf Florian auf 10 Sekunden geschrumpft. Nach 2,5 Runden war ich noch 8 Sekunden hinten. Die letzte Runde fuhr ich dann voll und konnte immer noch extrem hohe Wattwerte fahren. Mein Pacing war super, dass merkte ich vor allem in der letzten Runde.

Nach 3,5 Runden war die Ansage vom Team dann „-2“, ich lag also 2 Sekunden vorn. Das beflügelte mich nochmal extrem. Ich wusste, wenn ich keinen Fehler auf der letzten halben Runde mache, hole ich auf jeden Fall eine Medaille und kann im besten Fall sogar Weltmeister werden.

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Ich holte nochmal alles aus mir heraus, wollte aber auch nicht zu viel riskieren und habe in den schnellen Kurven der Rennstrecke meine bis hierhin gute Leistung nicht aufs Spiel setzen wollen. Auf der langen Zielgeraden habe ich dann natürlich komplett überzogen und konnte mich nach der Zieldurchfahrt kaum mehr auf dem Rad halten.

Es dauerte eine Weile, bis ich ein Ergebnis mitgeteilt bekommen habe. Ich war mit meinem Ausfahrprogramm bereits fertig und vom Rad gestiegen, als ich hörte, dass ich Vizeweltmeister geworden bin. Ich freute mich sehr darüber. Dann wurde schnell klar, dass ich am Ende 1,5 Sekunden hinter dem Franzosen gelandet bin und mir nur dieser Wimpernschlag zum Weltmeistertitel gefehlt hatte. Ich wusste kurz wirklich nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.

Die Teamärztin war sofort zur Stelle und nach kurzer Erholung im Zielbereich konnte ich in die deutsche Box fahren um mich auf der Rolle, wie immer nach einem Rennen, auszufahren. Ein Ergebnis kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Von allen Startern fuhr ich die drittschnellste erste Runde, die zweitschnellste zweite Runde und jeweils die schnellste dritte und vierte Runde. Das Pacing hatte also komplett gestimmt. Auch am Ende ging einfach nicht mehr. Natürlich versucht man sich zu fragen, wo man diese eine Sekunde verloren haben könnte. Wenn ich schneller starte, kann ich dann am Ende immer noch so schnell fahren, oder werde ich dann langsamer? Hätte ich nur einmal anstelle von zweimal während des Rennens trinken sollen?

Ich habe eine Nacht gebraucht um das Rennen zu verarbeiten und all diese Fragen einfach zur Seite zu schieben. Ich bin ein extrem starkes Rennen gefahren, konnte meine Leistung auf den Punkt abrufen, habe keinen Fehler im Rennen gemacht und bin nicht gestürzt. Das alles ist nicht selbstverständlich. Ich habe die Silbermedaille gewonnen und nicht die Goldmedaille verpasst. Es gab jemanden, der schneller war als ich. Das kann ich akzeptieren. Der geringe Abstand motiviert mich sehr für die kommenden Aufgaben und die Vorbereitung für Tokio. Ich hätte dieses Trikot und den Titel wirklich gern gehabt, aber es ist eben nicht alles planbar. Der dritte Vizeweltmeistertitel in Folge (2018 Maniago, 2019 Emmen, 2021 Cascais) zeigen, dass ich zur Weltspitze gehöre und sich die harte Arbeit in diesem Bereich über Jahre auszahlt. Der Abstand nach hinten zeigt auch das Niveau, welches ich mir erarbeitet habe. Das gab´s nicht geschenkt. Im Rennen habe ich drei der vor mir gestarteten Athleten überholen können.

Zwei Tage nach dem Zeitfahren stand noch das Straßenrennen der Weltmeisterschaft auf dem Programm. Für mich war das Ziel klar. Ich wollte mich auf keinen Fall verletzen und das Rennen auf jeden Fall ohne Sturz beenden. Zudem wollte ich nicht einfach nur mitfahren, um am Ende in einen Sprint gegen die starke Konkurrenz zu gehen, sondern ständig attackieren um mich mit etwas Glück vielleicht vom Feld lösen zu können.

Direkt nach dem Start habe ich das erste Mal voll attackiert. Diese Attacke konnte relativ schnell wieder
vom Feld abgefangen werden. Ich habe kurz einen Schluck getrunken, um direkt wieder zu attackieren.
Auch diese Lücke hat das Feld schnell wieder geschlossen. Ich versuchte es in Runde eins noch ein
drittes Mal, war allerdings erneut nicht erfolgreich.

Um es kurz zu machen: Im Feld hat niemand etwas investiert, alle wollten heil ins Ziel kommen und es auf einen Sprint ankommen lassen. Meine Attacken wurden immer wieder abgewehrt, dann wurde einfach nur so dahin gerollt. Rennen konnte man das nicht nennen. Ich habe es noch ein paar Mal versucht. In Runde vier dachte ich kurz, ich hätte mein Ziel erreicht, als ich mit sehr hoher Geschwindigkeit von hinten am bummelnden Feld vorbeiflog. Aber auch diese Lücke wurde geschlossen und ich hatte absolut keine Körner mehr übrig. Das Rennen war im Schnitt so langsam, dass die Durchschnittswattleistung niedriger war als bei manchen meiner Trainingsausfahrten. NP („Normalized Power“ = Leistungsdurchschnitt, Anm.d.Red.) lag bei mir in diesem Rennen allerdings 80 Watt über der Durchschnittsleistung, was zeigt, wie hart meine Attacken in diesem Rennen waren.

Am Ende ging es in den Sprint, den der Großteil des Fahrerfeldes wollte. Ich wurde Zehnter ohne Chance nach vorn. Damit kann ich leben. Bevor ich das Sprinten trainiere, fahre ich lieber noch 2 Sekunden schneller im Zeitfahren. Mein Fokus und der Trainingsauftrag für die kommenden Wochen sind klar. Ich war froh, das Rennen sturzfrei beendet zu haben.

Ich habe eine Silbermedaille aus Portugal mit nach Hause gebracht, was nicht selbstverständlich ist. Ich bin dankbar, dass alles so gut gelaufen ist, ich gesund und munter wieder daheim bin und erneut eine WM-Medaille holen konnte. Allerdings gebe ich zu, dass ich körperlich und mental absolut am Limit bin. Die letzten Wochen und Monate waren sehr belastend. Ich brauche dringend Ruhe um aufzutanken, damit ich dann Richtung Tokio wieder angreifen kann. Der Weg geht weiter…

Ich möchte mich bei allen Partnern, dem Team des Deutschen Behindertensportverbandes, dem Polizeipräsidium Mittelfranken sowie meinen Kollegen bei der PI Ergänzungsdienste Mittelfranken, der deutschen Sporthilfe, dem Goldenen Ring Nürnberg sowie meinen Freunden und meiner Familie für die Begleitung und Unterstützung bedanken. Der größte Dank geht an meine Frau Siw. Sie ist die Nummer 1 und viel zu oft kann ich das nicht durch meine Zeit und meine Energie ausdrücken. Danke für dieses Leben!

Diese Woche steht bei mir die Regeneration absolut im Vordergrund. Ich werde ein paar Tage mit meiner Frau am Fuße der Zugspitze verbringen und einfach mal die Zeit und das Leben genießen. Am Montag den 21.06. beginne ich wieder mit dem Training und der fokussierten Vorbereitung auf die Spiele in Tokio. Das erste Höhentrainingslager in St. Moritz beginnt bereits am 26.06. und geht 14 Tage lang. Im Juli geht es dann für drei Wochen in die Höhe nach Livigno, bevor die Straßen-Mannschaft des Team Deutschland Paralympics Ende August Richtung Tokio abfliegen wird.“

Soweit Matthias Schindler, der zwischenzeitlich schon ein paar TV- und Podcast-Auftritte hatte, die ich an dieser Stelle erwähnen möchte:

[Text: Matthias Schindler, Fotos: Oliver Kremer]

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Alexander Theis
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