Zwei Menschen fahren auf E-Bikes eine Pass-Straße hinauf.
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E-Bike & Automatik?! Wer braucht denn sowas…

Lesezeit etwa 11 Minuten

In der Fahrradsaison 2024 rückt wohl das Thema Schaltautomatik am Fahrrad immer stärker in den Fokus. Aber was verbirgt sich dahinter und wie können Radfahrende davon profitieren?

Ich sehe schon die Kommentare vor mir nach dem Motto. „Erst ein E-Motor, dann noch Automatik! Wer nicht schalten kann, gehört nicht aufs Rad!“ oder „Sportliche Fahrer fahren keine Automatik!“ Das war bei der Automatik beim Auto so und beim Motorrad ist es immer noch so.

Dabei vergessen viele, dass der eigene Anspruch „sportlich fahren“ oder „schalten zu können“ nicht der Anspruch aller ist. Wer sich, am Ende eines langen Tages auf dem Fahrrad, noch nie verschaltet hat, der werfe das erste Ritzel. Mir passiert das immer mal wieder.

Dazu kommt: Ich kenne genügend Menschen, die zwar gerne E-Bike fahren, sich aber mit der Technik nicht auseinander setzen wollen, nicht im Flachland leben, aber trotzdem Spaß am Radfahren haben wollen. Für diese Menschen ist eine Automatik enorm hilfreich: Drauf setzen und Spaß haben! Und das ist doch das, was zählt: Spaß beim Radfahren haben – ob mit Singlespeed, 1×11, oder mit E-Bike und Automatik.

Genau deshalb zeigt dieser Artikel den Stand der Dinge.

Vorteil Automatik?

Vermutlich kennt jede*r Radfahrende die Situation: Man nähert sich entspannt einer roten Ampel und bleibt an der Haltemarkierung stehen. Wenn es dann grün wird und man wieder losfahren möchte, stellt man jedoch fest, dass man noch in einem zu schweren Gang ist. Das Anfahren gestaltet sich entsprechend mühsam, die Oberschenkel beschweren sich, man muss aus dem Sattel.

Erfahrene Radler sagen dann oft: „Tja, Anfängerfehler! Mit genug Erfahrung und vorausschauendem Schalten wäre das nicht passiert!“. Und vergessen dabei oft, dass nicht alle Radfahrenden schon immer Rad gefahren sind und auch noch andere Verkehsmittel nutzen. Dabei verschalten sich auch erfahrene Radfahrer ab und an.

Zum Glück gibt es nicht nur die Möglichkeit des vorausschauenden Schaltens, sondern auch eine technische Lösung für dieses Problem: automatische bzw. intelligente Schaltungen. Sie sorgen dafür, dass Radfahrende in solchen Situationen immer in den passenden Gang kommen – und das noch bevor sie in die Pedale treten. Aber wie funktioniert das?

Elektronische Schaltung

Zur Klärung der Grundlagen werfen wir einen Blick auf die Technik hinter den Schaltvorgängen: An Fahrrädern, insbesondere an E-Bikes, verdrängen elektronische Schaltsysteme zunehmend ihre mechanischen Pendants. Sie leiten Schaltkommandos über Funk oder Draht weiter.

Ihr Plus: Diese Systeme schalten nicht nur flotter, sondern auch verlässlicher und bedürfen weniger Instandhaltung. Ich hatte 2016 das erste Mal für längere zeit Kontakt mit dieser Art zu schalten: Das Stromer ST2S im Test war mit einer Di2 von Shimano ausgestattet. Zuerst war ich skeptisch, hatte mich aber schnell dran gewöhnt.

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Wo ist der Bowdenzug? Shimano Di2 am S-Pedelec ST2S von Stromer

Zudem lässt sich die Schaltlogik oftmals auf die persönliche Pedalierweise jedes Radlers abstimmen, indem eigens definierte Schaltmuster programmiert werden. Solch raffinierte Schalt-Optionen kennzeichnen die fortschreitende Evolution der Schalttechnologien.

Ein Beispiel dafür ist die sogenannte semi-automatische Schaltung, wie es die Situation an einer Ampel verdeutlicht: Unter gewissen Voraussetzungen wechselt das System selbsttätig in einen festgelegten Gang, um das Anfahren zu vereinfachen.

Noch weiter geht die Vollautomatik: Hierbei erfolgen keine manuellen Schaltvorgänge durch die Radfahrenden mehr, sondern das System entscheidet eigenständig anhand einer vorab festgelegten Pedalumdrehungszahl über den idealen Gang. Ziel ist es, den optimalen Schaltmoment automatisch zu finden. Ein Beispiel dafür ist das Scorpion Plus 26 von HP Velotechnik, bei dem die Schaltung automatisch erfolgt. Auch hier zeigte der Test: Das funktioniert gut!

Obschon die Produzenten für diese Innovationen unterschiedliche Termini verwenden, basieren sie letztlich alle auf diesen zwei Funktionsprinzipien. Trotz feiner Differenzierungen im Detail ist ihnen gemein, dass man die automatisierten Prozesse bei Bedarf deaktivieren und auf manuelles Schalten umstellen kann.

Motor & Getriebe vereint

Bei der Eurobike 2022 präsentierte Pinion, ein Experte für zentrale Antriebstechnik, sein innovatives Smart-Shift-Konzept. Dieses elektronische Getriebe bietet fortschrittliche Funktionen wie „Start-Select“, die automatisch den idealen Gang zum Losfahren wählt und „Pre-Select“, bei dem durch Voreinstellung der Trittfrequenz das System den Gang wechselt, sobald die Pedalbewegung pausiert.

Laut Niklas Henkel, Produktmanager bei Pinion, wechselt das Getriebe, sobald der Fahrer einen Pfad oder eine Straße hinuntergleitet, nahtlos in einen höheren Gang, damit beim Pedalieren nicht ins Leere getreten wird. Durch die Analyse der Daten von verschiedenen Sensoren, insbesondere des Geschwindigkeits- und Trittfrequenzsensors, ermöglicht es das System, stets den optimalen Gang einzulegen. Käufer können zwischen Modellen mit neun oder zwölf Gängen wählen.

„Unsere Sensorik erlaubt uns, in weniger belasteten Momenten zu schalten“, so Henkel, was einen sehr geschmeidigen Gangwechsel und reduzierten Verschleiß zur Folge hat. Die Schaltvorgänge erfolgen durch einen kleinen Hebel und sind elektronisch gesteuert, was extrem schnelle und nahezu unmerkliche Gangwechsel ermöglicht, die nur 0,2 Sekunden dauern, so Henkel.

Das erste Produkt mit Smart-Shift-Technik wurde von Pinion in Kooperation mit dem Hersteller Stromer eingeführt, funktioniert aber mittlerweile auch mit Mahle-Hinterradnabenmotoren und dem Neodrives-System.

Die nächste Innovation war die 2023 eingeführte Motor-Getriebe-Kombination, die MGU, welche die präzise Zahnradgetriebetechnologie mit einem speziell entwickelten Elektromotor kombiniert. Sämtliche Antriebskomponenten sind in einem Gehäuse integriert, was die Wartung erleichtert, vor allem in Verbindung mit einem Riemenantrieb. Henkel zufolge ist alle 10.000 Kilometer ein Ölwechsel fällig, was die Wartung auf ein neues Niveau hebt.

Henkel sieht die MGU als vielseitig einsetzbare Lösung, die für fast alle Radfahrer Vorteile bringt, und betont, dass die Smart-Shift-Technologie auch in Verbindung mit Hinterradnabenmotoren durch geringen Wartungsaufwand und hohe Zuverlässigkeit überzeugt.

Smart Shifting auch für Bio-Bikes!

Ein besonderer Clou: Ab der nächsten Saison ist das Smart Shifting auch für Fahrräder ohne Motor verfügbar, was vor allem für Mountainbiker interessant sein dürfte. Im Abfahrtsbereich ist die Pre-Select-Funktion besonders wertvoll, da sie den Fahrern die Sorge um die Gangwahl abnimmt, wie Henkel erklärt. Für diese Technologie ist eine Stromversorgung durch eine kleine Lithium-Ionen-Batterie erforderlich, ebenso wie eine spezielle Halterung für das Pinion-Getriebe. Also leider noch ein „Standard“ mehr.

Automatik für E-MTB?

Automatikgetriebe waren in US-amerikanischen Autos schon früh völlig selbstverständlich. Der transatlantische Elektronikexperte Sram, mit Wurzeln in den USA und Deutschland, machte bereits 2019 mit einer innovativen drahtlosen Schaltung von sich reden. Jetzt lanciert er mit der Eagle Powertrain eine automatisierte Schaltlösung, die eigens für E-MTB`s konzipiert ist.

Auch wenn die Basisfunktion der Kettenführung beibehalten wird – das heißt, die Bauteile sind frei zugänglich, leicht und effizient – ist die Stärke des Systems, dass es während der Tretbewegung automatisch die Gänge wechselt. Radler müssen vorab nur ihre bevorzugte Trittfrequenz aus sechs Optionen wählen und können dann während der Tour zwischen intensivem und entspanntem Modus variieren. „Wir versuchen, Fahrende in ihrem komfortablen Trittfrequenz-Fenster zu halten. Das System schaltet dadurch deutlich öfter und nutzt die vorhandenen Gänge besser aus“, erläutert Sprecher Moritz Dittmar.

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Allerdings lernt das System nicht eigenständig aus dem Fahrverhalten der Nutzer. „Natürlich haben wir das ausprobiert, haben aber gemerkt, dass man dann in erster Linie der Automatik die menschlichen Fehler anlernt“, fügt Dittmar hinzu. Nach zahlreichen Probefahrten wurde daher ein Algorithmus entwickelt, der einer idealen Schaltperformance nahekommt:

„Wir wollen den Mountainbiker:innen nahelegen, dass die Trittfrequenz gerne ein wenig höher sein darf. Das ist auch gut für den Motor“, deutet Dittmar auf den Effekt für das Training hin. Vor allem Neulinge könnten von dem Produkt angesprochen werden.

Weiterhin verfügt das System über eine „Coast-Shift-Funktion“, die beim Dahinrollen schaltet, und arbeitet mit dem Motorhersteller Brose zusammen, dessen Antrieb nur zwei Unterstützungsstufen bietet. „Wir sind zu der Erkenntnis gekommen, dass mehr Unterstützungsstufen eine Ablenkung sind und für die allermeisten Leute zwei ideal sind. Diese kann man sich via App konfigurieren und an die individuellen Bedürfnisse anpassen“, erklärt Dittmar.

Aus meiner Erfahrung kann ich das bestätige: Bei der Unterstützungsstufeb nutze ich meist nur die oberen beiden.

Brose & Automatik

In Berlin arbeitet das Team von Brose eifrig an einer neuen Getriebeautomatik. Auf der Eurobike 2023 präsentierte man eine Pilotversion einer Antriebseinheit, die auf einem stufenlosen Getriebe, bekannt als CVT („Continuous Variable Transmission“, also ein stufenloses Schaltsystem), beruht. Dieses Getriebe ermöglicht eine unendliche Anzahl von Übersetzungsverhältnissen, wodurch Schaltvorgänge für die Radfahrenden unbemerkt und automatisiert erfolgen.

„Das bedeutet, dass die Schaltvorgänge nicht nur automatisch erledigt werden, sondern sie für die Radfahrenden nicht einmal mehr spürbar sind. Das ist ein großer Unterschied zur bisherigen Automatikschaltung, weil kein Drehmomentabfall erfolgt,“ erklärt Florian Sack aus Brose’s Forschungs- und Entwicklungsabteilung.

Brose Automatik E-Bike-Motor auf de Eurobike 2023.

Innerhalb des Antriebs agieren zwei Elektromotoren in Kombination mit einem Planetengetriebe, um die Übersetzung nahtlos zu regulieren. Die Integration des Schaltmechanismus macht das System weniger anfällig für Wartungsarbeiten, effizienter und finanziell attraktiver. Sack prognostiziert, dass besonders im städtischen Raum und bei Trekking-Bikes der größte Nutzen liegen wird, da die Fahrer ihre volle Aufmerksamkeit dem Straßenverkehr widmen können.

Generell meint Florian Sack, dass es künftig nicht mehr einen Universal-Motor geben wird, sondern spezialisierte Lösungen je nach Anwendungszweck.

Brose, ähnlich wie Sram, setzt in der Praxis auf zwei spezielle Fahrmodi: Autoshift ermöglicht eine vollständige Automatisierung des Schaltvorgangs, während Motorshift das Schalten beim Rollen erlaubt. Über Sensoren wird die Trittfrequenz individuell angepasst, um eine noch präzisere Abstimmung auf den persönlichen Fahrstil zu erlauben.

Für Kunden ist es entscheidend, dass das Rad automtisch schaltet und vor allem stets den optimale passenden Gang serviert. „Das ist ein super Komfort-Feature – egal ob am Trail oder in der Stadt“, betont Sack. Die durchwegs positiven Rückmeldungen stimmen das Unternehmen zuversichtlich, die neue Antriebseinheit zur Saison 2025 auf den Markt bringen zu können.

Automatik = Zukunft beim E-Bike?

Die genannten Beispiele verdeutlichen das enorme Potenzial von automatischen Schaltungen. Der Markt für solche Systeme wächst stetig, und die Branchenriesen Bosch und Shimano bieten bereits ihre eigenen Lösungen an. Allerdings sind diese Produkte noch im Premiumsegment angesiedelt und entsprechend teuer.

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Zudem machen sie E-Bikes tendenziell schwerer und können nicht nachgerüstet werden, sondern erfordern den Kauf eines komplett neuen Fahrrads. Ein Investition, die nicht immer möglich oder auch gewollt ist.

Eine interessante Frage, die sich in der Automatik-Entwicklung beim E-Bike stellt, ist, ob zukünftige Systeme auch eine Schnittstelle zu Navigations-Apps erhalten können. Dadurch könnten sie vorausschauendes Fahren ermöglichen und die Gangwechsel noch weiter optimieren. Dies wäre ein spannender Schritt nach vorne, der das Fahrerlebnis auf ein neues Level heben könnte.

Meine Meinung

Ich schätze, dass Automatikgetriebe bei E-Bikes auf lange Sicht zwar üblicher werden, aber manuelles Schalten nicht vom Markt verdrängen werden. Doch das ist beim Auto genau so: Automatikgetriebe kosten auch heute noch in der Regel Aufpreis und sind bei günstigen Marken teils gar nicht erhältlich. Das ist aus meiner Sicht aber auch gut so, denn so bleiben auch E-Bikes erschwinglicher.

[Text [at], Fotos: VeloStrom, PD-F]

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Alexander Theis
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